Editorial dérive 59
2014 auf dem INURA-Kongress in Belgrad hörten wir das erste Mal von Belgrade on Water. In Savamala, jenem zentral gelegenen Stadtteil an der Save, der durch donnernden Schwer-verkehr ebenso gekennzeichnet ist wie durch hippes Partyvolk, internationale AufwertungsstrategInnen und die Armut der lokalen Bevölkerung, wurden in diesem Sommer 2014 quasi über Nacht einzelne Straßen hochpoliert und dutzende Fahnenmasten aufgestellt. Diese verkündeten lautstark von einem imposanten Stadtentwicklungsprojekt namens Belgrade Waterfront und dessen in Abu Dhabi ansässigen Investor Eagle Hills. Der Name und ein Blick auf die Werbesujets, deren Renderings sich nicht einmal die Mühe machten die Topographie von Belgrad abzubilden, machten klar, wohin die Reise geht. Rückblickend haben sich alle Befürchtungen bewahrheitet und jeder neue Puzzlestein passt in das Bild einer spekulativen Investoren-Stadtentwicklung, die mit den realen Bedürfnissen von Belgrad nichts zu tun hat. Wenig überraschend preist Eagle Hills Belgrade Waterfront auch als Smart City an. So unsäglich das Projekt, so beeindruckend ist der Widerstand dagegen.
Die StadtaktivistInnen von Ne da(vi)mo Beograd sorgen mit enormer Energie für die Information der Öffentlichkeit über die Deals und Machenschaften hinter dem Projekt. Sie zeigen den verantwortlichen PolitikerInnen mit ebensolcher Hartnäckigkeit wie Informiertheit, dass mit Widerstand zu rechnen ist. Nun beweisen die jüngsten Entwicklungen rund um die Auseinandersetzung, dass die Aktionen Wirkung zeigen: Die Öffentlichkeitsarbeit von Ne da(vi)mo Beograd wird erschwert, indem sie kriminalisiert wird – das Verteilen von Informationsmaterial im öffentlichen Raum wurde jüngst ohne rechtliche Grundlage bestraft, AktivistInnen wurden kurzzeitig verhaftet. In solchen Situationen ist internationale Aufmerksamkeit und Solidarität besonders wichtig – wir freuen uns daher über den aktuellen Hintergrundbericht der AktivistInnen aus Belgrad.
Neben Belgrade Waterfront betreibt Eagle Hills derzeit ein weiteres Projekt besonders intensiv: Centenary City in Abuja, Nigeria. Das bringt uns zum zweiten Artikel, der sich in dieser Ausgabe mit Investorenurbanismus beschäftigt. Afrika gilt bei globalen InvestorInnen seit geraumer Zeit als aufstrebender Kontinent, was in deren Logik vor allem bedeutet, dass die Zahl jener, die sich einen westlichen Lebensstil leisten können, im Steigen begriffen ist. Das immer nach Rendite suchende Kapital wird somit in Bauprojekte in zahlreichen afrikanischen Städten gesteckt, über die Vanessa Watson in ihrem Artikel African urban fantasies: dreams or nightmares? schreibt: „They depart even further from African urban reality than did the post-colonial zoning plans.“ Denn die urbane Realität jenseits des PR-Vokabulars dieses speculative urbanism, der sich selbstverständlich ökologisch, smart, sicher und sauber gibt, heißt oft genug Armut, fehlende Infrastruktur-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Verdrängung, Vertreibung und rechtliche Willkür.
Ein großes städtisches Imageprojekt ist auch Rethink Athens, das nach offizieller Lesart mehr Lebensqualität in das Zentrum von Athen bringen soll, als hidden agenda allerdings einige politische Ziele verfolgt, wie Daniel Mullis in seinem Beitrag Athen neu denken und die Rückeroberung der Städte erläutert. Das 92-Millionen-Euro-Projekt, unterstützt von griechischer Politprominenz ebenso wie von der konservativen Onassis-Stiftung, gilt derzeit aus finanziellen Gründen allerdings als undurchführbar.
Nach den Berichten über Belgrad, Kinshasa, Lagos, Dar es Salaam und Athen geht es wieder zurück in dérives unmittelbare Nachbarschaft: Das Stuwerviertel, dem wir im Sommer 2009 (Heft 36) bereits einen Schwerpunkt zum Thema Aufwertung gewidmet haben, liegt nur ein paar Gehminuten von unserer Redaktion entfernt, weswegen wir seine Entwicklung mit besonderem Interesse verfolgen. Ferdinand Redl hat sich für seinen Artikel Formerly known as problematisch – Die Transformation des Wiener Stuwerviertels die Entwicklung des Quartiers aus regulationstheoretischer Sicht angesehen. Er zeigt die räumlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Akkumulationsregime und beschreibt die aktuelle Stimmung unter den BewohnerInnen des Viertels.
Nach Frankfurt geht es schließlich mit Klaus Ronneberger und den KünstlerInnen Sabine Bitter und Helmut Weber, die sich seit Ende 2013 mit dem Standortwechsel der Johann Wolfgang Goethe-Universität auseinandersetzen. Im Rahmen ihres Projekts Der Universitätskomplex. Von der Kritischen Theorie zum Exzellenzcluster hat Ronneberger einen Text verfasst, der die architekturhistorische und bildungspolitische Geschichte der Universität und die Bedeutung des Standortwechsels analysiert, Bitter/Weber haben dafür eine Collage zur Verfügung gestellt.
Städtischer Leerstand und die damit verknüpfte Frage nach Nutzungsmöglichkeiten steht mit dem Beitrag von Betül Bretschneider in dérive ein weiteres Mal zur Diskussion: Die Architekturforscherin legt in ihrem jüngst veröffentlichen Buch Ökologische Quartiersentwicklung einen speziellen Fokus auf die Potenziale der Erdgeschosszonen und den Straßenraum. In dérive setzt sie sich damit im Licht der Debatte um Nachverdichtung in der wachsenden Stadt auseinander.
Mit Fragen der Nutzung hat auch Eva Engelberts Kunstinsert New Univers zu tun. Sie widmet sich nicht mehr in Betrieb befindlichen Eisenbahninfrastrukturen, Fragen der Nachnutzung und dem Verwertungsdruck auf diese Brachen. Manfred Russo setzt seine Geschichte der Urbanität mit einer weiteren Folge zu Henri Lefebvre fort.
Eine passende Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass dérive mit der nächsten, 60. Ausgabe sein 15-jähriges Bestehen mit dem Schwerpunkt „Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt“ feiert. Mit Lefebvres Idee der Stadt als Œuvre beschäftigt sich auch das 6. urbanize! Festival von 2. bis 11. Oktober 2015: Im Mittelpunkt stehen Chancen und Fallstricke eines kooperativen Urbanismus zwischen Œuvre, Möglichkeiten und Organisationsformen des DIT - Do it together und neoliberaler Verwertung. Neben einer im wahrsten Sinne großartigen Festivalzentrale in Wien wird es heuer erstmals eine urbanize!-Zweigstelle in Linz sowie zahlreiche Möglichkeiten für Beteiligung und Experiment geben.
Let‘s do it together meinen die dérives
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.