Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Als wir mit den beiden Schwerpunktredakteuren Michael Hieslmair und Michael Zinganel vor gut einem Jahr erstmals über dieses Heft gesprochen haben, war nicht absehbar, wie aktuell sich das Thema der paneuropäischen Korridore nur ein paar Monate später zeigen würde. Niemand konnte ahnen, dass die längst außer Dienst gestellte österreichisch-ungarische Grenzstation Nickelsdorf zu einem Hotspot für Flüchtlinge werden würde. Genauso wenig war absehbar, dass Österreichs völlig außer Rand und Band geratene SPÖVP-Regierung anordnen würde, an innereuropäischen Grenzabschnitten Zäune zu errichten, das Asylrecht zu ignorieren, private Spendengelder an NGOs für öffentliche Aufgaben zu beschlagnahmen, Asylberechtigten gesetzwidrig finanzielle Unterstützungen zu kürzen und ganz generell für eine komplette Abschottung der EU einzutreten. Selten hat Österreich so großes politisches Engagement und Selbstbewusstsein gesehen.
Die tatsächlichen Problemlagen in der Alpenrepublik erfreuen sich derweil weit weniger Aufmerksamkeit von Seiten der Politik: Steigende Arbeitslosigkeit und immer höhere Mieten bei gleichzeitig sinkenden Realeinkommen, vorgestrige Bildungspolitik (40% der 9 bis 10-jährigen können nicht sinnerfassend lesen) und falsche Steuerpolitik (sehr hohe Steuern auf Arbeit bei gleichzeitig sehr niederen Steuern auf Vermögen), eine von Ressentiments geprägte Migrationspolitik und fehlende politische Rechte für Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, eine verknöcherte Familienpolitik, und vieles mehr. Die Auswirkungen werden wir besonders im urbanen Raum zu spüren bekommen, weil dieser stets im Fokus gesellschaftlicher Entwicklungen steht. Es zeigt sich wieder einmal, wie wichtig es ist, das Konzept einer Urban Citizenship weiter zu verfolgen und gleichzeitig die Möglichkeit zur urbanen Selbstverwaltung zu stärken.
Doch zurück zum Heft: Während die GraphikerInnen vom Atelier Liska Wesle am Layout des Heftes werkten, waren Hieslmair und Zinganel im Zuge ihres Forschungsprojektes wieder einmal mit ihrem Ford Transit auf dem Weg nach Bulgarien, um in Sofia eine Ausstellung zu eröffnen. Druckfahnen sowie letzte Korrekturen und Änderungen mussten deswegen zwischen Wien und diversen WLAN-Tankstellen auf der Route hin- und hergeschickt werden. Diese klassisch-analogen Infrastrukturen, die schon immer als wichtige Versorgungseinrichtungen der Mobilität gedient haben, erfüllen somit auch im digitalen Zeitalter ihre Aufgaben – und bilden ein Thema dieses Heftes.
Der Großteil der Texte entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition, das Knotenpunkte transnationaler Mobilität und Migration entlang der wichtigsten paneuropäischen Straßen-Verkehrskorridore in einem Dreieck zwischen Wien, Tallinn und der bulgarisch-türkischen Grenze untersucht. Dieses Dreieck ist auch für den Schwerpunkt zentral, obwohl seine Grenzen in zwei externen Beiträgen gedehnt werden: Anke Hagemann und Elke Beyer beschäftigen sich in ihrem Beitrag Patchwork Urbanism »am Beispiel der Textilindustrie in der Westtürkei mit den städtebaulichen Auswirkungen globalisierter Güterproduktion und damit, wie sich […] lokale Stadträume entlang transnationaler Produktionsketten konstituieren.« Juan Moreno und Thomas Grabka wiederum haben einen der vielen rumänischen Fahrer von Kleintransportern auf seinem langen Weg von Rumänien nach Portugal begleitet und dabei ihre Beobachtungen und die Erzählungen von Chauffeur und Mitreisenden aufgezeichnet und Eindrücke abgebildet. Im Blickpunkt des Artikels von Tarmo Pikner stehen der jährlich von mehreren Millionen Passagieren frequentierte Hafen von Tallinn und die Tallinner Altstadt und die vielen Pfade und Wege, die diese verbinden und sich kreuzen. Entlang dieser Linien liegen sowohl Sehenswürdigkeiten und Hotels als auch billige Einkaufsmöglichkeiten für finnische TouristInnen, die sich die Reisekosten durch die Ersparnis beim Einkauf von billigem Alkohol querfinanzieren. Um ein vorrangig von ChinesInnen, VietnamesInnen und TürkInnen betriebenes Großhandelszentrum südlich von Warschau, im äußerst verkehrsgünstig gelegenen Dorf Wólka Kosowska, dreht sich der Beitrag von Katarzyna Osiecka und Tatjana Vukosavljević. Emiliya Karaboeva wiederum hat sich das bulgarische Transportunternehmen SO MAT und sein Geschäftsmodell zur Zeit des Eisernen Vorhangs angesehen, bei dem die Fahrer der LKWs eine bedeutende Rolle spielten. Michael Hieslmair schließlich zeichnet nicht nur gemeinsam mit Nickelsdorfs Bürgermeister Gerhard Zapfl für das schöne Schaubild zu Nickelsdorf verantwortlich, sondern hat auch einen Beitrag über die Wiener Busbahnhöfe geschrieben. Michael Zinganel wiederum hat die Einleitung zum Schwerpunkt verfasst und uns ein Interview zum Schwerpunktthema gegeben, das im dérive Radioarchiv auf www.derive.at nachgehört werden kann.
Neben einer weiteren Folge zur Geschichte der Urbanität, die sich diesmal Henri Lefebvre und seinen Ausführungen zu Raum und Körper widmet, gibt es zwei Ausschnitte aus dem Prag-Roman Severins Gang in die Finsternis von Paul Leppin und einen Beitrag über das Mietshäuser Syndikat in Österreich und sein erstes Projekt Willy*Fred in Linz.
Da etliche Ausgaben von dérive vergriffen sind, wie etwa die begehrten Hefte Smart Cities, Stadt selber machen, Migration, Gouvernementalität u.a.m., stehen sie ab sofort in unserem neuen Online-Kiosk als PDF zur Verfügung. Somit sind alle Ausgaben von dérive entweder in gedruckter oder digitaler Form erhältlich. Wir freuen uns auf Bestellungen.

Christoph Laimer


Heft kaufen