Editorial dérive 67
Urban Gardening liegt seit Jahren im Trend, städtische Märkte feiern eine Renaissance und sind Fixpunkt von Stadttourismustouren, Kochevents gibt es aller Orten und Streetfood wandelt sich auch in unseren Breiten von der exotischen Attraktion zum Alltagsangebot. Man könnte meinen, die Stadtbevölkerung verbringt ihre Tage mit Gärtnern, Kochen und Essen. In dieser Schwerpunktausgabe zum Thema Nahrungsraum Stadt werden Sie trotzdem über die neuesten Urban-Gardening-Tipps ebenso wenig lesen, wie über die coolsten Streetfood-Hangouts oder die angesagtesten Community-Kochevents in Ihrer Nachbarschaft – auf dérive ist eben Verlass.
Stattdessen legen wir unseren Fokus auf die räumlichen Ausprägungen und Auswirkungen der diversen Hypes und Trends, beschäftigen uns am Beispiel Wien mit dem Themenkomplex urbane Landwirtschaft, Stadtwachstum, Imagepolitik und Partizipation oder sehen uns den Nahrungsmittelanbau in Kubas Städten näher an.
Katharina Held, die für den Schwerpunkt verantwortliche Redakteurin, schreibt in ihrem Einleitungsartikel: »Nahrungsmittel sind als fundamentaler Bestandteil menschlichen Lebens auf vielfältige Weise in das städtische Alltagsleben eingebunden, sie verändern öffentliche Räume, das allgemeine Stadtbild, die Stadtpolitik, durchdringen städtisches Leben und produzieren Stadt und Urbanität.« Wie sich das im Fall der Berliner Markthalle Neun auswirkt, analysiert Held in einem weiteren Artikel für den Schwerpunkt. Im Mittelpunkt des Beitrages stehen die Eventisierung des Marktgeschehens und ihre Auswirkungen auf die Nachbarschaft. Berlin ist gemeinsam mit Beirut gleich noch einmal Schauplatz in diesem Schwerpunkt, wenn es im Beitrag Falafel gentrified von Miriam Stock um sich verändernde Geschmackslandschaften und deren räumliche Effekte geht. Inga Reimers setzt sich in Die Stadt als Tafel mit dem Trend zum gemeinschaftlichen Kochen und Essen als Tool für Community-Building oder zur Inszenierung von Debatten auseinander.
Kuba wiederum gilt wohl zu recht als besonders avanciertes Beispiel für Urban Farming. Carey Clouse zeigt im Artikel Hyper-local Foodscapes wie sich die urbane Landwirtschaft ab 1989, dem Jahr des Untergangs der Sowjetunion und dem damit verbundenen Abbruch von Handelsbeziehungen, zur heutigen Blüte entwickelte. International weniger bekannt ist möglicherweise, dass auch in Wien vergleichsweise viele Nahrungsmittel angebaut werden. Die Stadt verfügt nach eigenen Angaben über rund 5.000 Hektar Landwirtschaftsflächen, 870 Hektar davon werden für den Gartenbau – vor allem für die Gemüseproduktion – genutzt, rund 700 Hektar gehören dem Weinanbau. Auf diesen Flächen werden jährlich rund 60.000 Tonnen Gemüse bzw. Trauben für über 2.000.000 Liter Wein geerntet. In einer stark wachsenden Stadt wie Wien verwundert es jedoch nicht, dass diese Flächen unter Druck geraten. Sarah Kumnig zeigt mit ihrem Artikel Partizipation und grüne Imagepolitik in Wien am Beispiel des Wiener Donaufeldes, wie der Konflikt zwischen baulicher Stadterweiterung und urbaner Landwirtschaft ausgetragen bzw. besänftigt wird.
Der Magazinteil dieser dérive-Ausgabe führt mit drei Beiträgen an die Schauplätze Addis Abeba, Athen und in den Aufzug als Ort zur Einübung urbanen Verhaltens. Lisa Bolyos schreibt in ihrer Reportage über die Geschwindigkeit der schier uferlosen Stadtentwicklung Addis Abebas, die nicht ganz zufällig an chinesische Verhältnisse erinnert: Die damit verbundene Zerstörung informeller Siedlungen und Strukturen erzeugt Widerstand, der sich mittlerweile generell gegen die Regierungspolitik richtet.
Peter Payer erzählt im zweiten Magazinbeitrag die »kleine Zivilisationsgeschichte« Wie wir lernten, mit dem Aufzug zu fahren. Er erinnert an die damit verbundenen Ängste, die sowohl sozialer Natur waren, als auch in Bezug auf mögliche Unfälle herrschten. Payer porträtiert die Figur des Aufzugswärters und analysiert die Fahrstuhl-Kabine als Ort an dem »es galt, extreme Nähe auszuhalten, auch über mögliche Klassengrenzen hinweg«.
Für den letzten Beitrag haben wir uns ins Beste Hotel Europas begeben, um mit einer Aktivistin der Initiative City Plaza Athens ein Interview zu führen. Vor rund einem Jahr wurde durch Besetzung aus einem leerstehenden Hotel im Zentrum Athens eine selbstverwaltete Flüchtlingsunterkunft für 400 Personen. Die Bewohner und Bewohnerinnen des beeindruckenden Projekts, das mit dem Slogan »No pool, no minibar, no room service but still the best hotel in Europe« für sich Werbung macht, organisieren und finanzieren ihren Alltag entlang von Solidarität und Selbstorganisation und stellen sich täglich den zahlreichen Herausforderungen und Widersprüchen.
Das Kunstinsert in dieser Ausgabe stammt von Maruša Sagadin, die mit ihrer Arbeit Terra Cotta, Panna Cotta mit der Säule als architektonischem Fragment spielt.
Es dauert zwar noch ein gutes halbes Jahr bis unser urbanize! Festival von 6. bis 15. Oktober in Wien erneut seine Tore öffnet, aber wir stecken natürlich längst bis unter die Haarwurzeln in den Vorbereitungen. Inhaltlich wird sich bei der 8. Ausgabe von urbanize! alles um das Themenfeld Stadt und Demokratie drehen. Am besten gleich im Kalender blockieren – dringend notwendige Debatte ist angesagt!
Bis dahin wünschen wir erkenntnisreiche Lektüre,
die dérives
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.