Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


100 Jahre Oktober Revolution, 100 Jahre Republik Österreich, 50 Jahre 1968, 200. Geburtstag von Karl Marx, 50 Jahre Le droit à la ville (Recht auf Stadt) … Die letzten und die kommenden Monate sind von zahlreichen Gedenk- und Jahrestagen geprägt. Über ein Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, hat die Regisseurin Kathrin Bygelow einen Film gedreht, der gerade in unseren Kinos gelaufen ist: Detroit. Im Juli 1967 fanden in Detroit Riots statt, bei denen sich nach einer Razzia in einer illegalen Bar Frustration und Zorn gegen den tief verwurzelten Rassismus, die immense Ungleichheit und die gesellschaftlich tolerierte Polizeibrutalität ihren Weg bahnten. Die auch als 12th Street Riot in die Annalen der Stadt eingegangenen Ausschreitungen kosteten 43 Menschen das Leben, über 1.000 Menschen wurden verletzt und mehr als 7.000 verhaftet. Die Stadt hatte damals schon viel von ihrem Glanz verloren. Zigtausende Arbeitsplätze in der Automobilindustrie waren aus der Stadt verschwunden, Arbeitslosigkeit, Armut, elende Wohnverhältnisse und Polizeibrutalität kennzeichneten den Alltag eines großen Teils der Bevölkerung. Betroffen waren vor allem die Schwarzen BewohnerInnen Detroits, die damals 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten, heute sind es 80. Detroit ist das Thema des Schwerpunkts in diesem Heft. Das Schicksal der Stadt erhält seit Jahren große, wenn auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästheti­sierung des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffee­table-Books darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökono­mische Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt sich in den Darstellungen und oszilliert zwischen den Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische Kontext und die Erklärungen dafür, wie aus Detroit Destroit werden konnte, wie die Stadt nicht ganz unpassend gelegentlich genannt wird, sind im Detail weit weniger bekannt. Dem Niedergang der Stadt liegt tatsächlich ein Akt der Zer­störung zugrunde, der sich – wie in zahlreichen anderen Städten auch – auf Rassismus gründet. Der so genannte White Flight aus den heterogenen Innenstädten in die homogenen Vorstädte wäre ohne rassistische Praktiken im Immobilienhandel oder bei der Kreditvergabe, kombiniert mit einer spezifischen Steuerpolitik, nicht möglich gewesen. Der von Lucas Pohl betreute Schwerpunkt in dieser Ausgabe von dérive versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten von Detroits urbaner Gesellschaft: Nach der Ein­leitung zum Schwerpunkt stellt der Detroiter Geograf Joshua Ackers die oben genannten gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in einem historischen Abriss der letzten Jahrzehnte der Stadt dar und analysiert die aktuelle Situation im Zeitalter der Austeritätspolitik. Eine der sehr konkreten Auswirkungen der neoliberalen Sparprogramme ist die Wasserversorgung der Bewohner und Bewohnerinnen Detroits. Seit 2014 wurde über 100.000 Haushalten das Wasser abgedreht, weil sich die BewohnerInnen nicht mehr in der Lage sehen, ihre Rechnungen zu bezahlen. (In Österreich wird übrigens jedes Jahr rund 28.000 Haus­halten wegen offener Rechnungen der Strom abgedreht.) Die Community-Organisation We the People kämpft seit Jahren gegen diese Politik und informiert in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt über die Situation. Lucas Pohl wirft in seiner Auseinandersetzung mit Detroit auch einen Blick auf einige der stadtprägenden Wolkenkratzer, die für ihn den Fall und Wiederaufstieg sowie die Machtverhältnisse in der Stadt beispielhaft verkörpern. Darüber hinaus macht er sich Gedanken um Fragen nach Zeit und Vergänglichkeit in einer Stadt, die sich wie kaum eine andere mit ihrem Untergang konfrontiert sah und sieht. Kerstin Niemann und Alexa Färber sprechen in einem Interview mit dem Fotografen Camilo José Vergara, der Detroit seit mehreren Jahrzehnten fotografisch dokumentiert. Durch seine Arbeit ist er zu einem Chronisten der Stadt geworden, der im Gegensatz zu anderen FotografInnen keine Ruin-Porn-Coffeetable-Books produziert, indem er den Verfall ästhetisch in Szene setzt, sondern mit seinem Schaffen einen stadtforscherischen Zugang verfolgt. Medial wird Detroit mit Blick auf die Kunstszene immer wieder als neues New York oder neues Berlin gehandelt. Nora Küttel zeigt in ihrem Beitrag, wie es um die Lebensrealität der Künstler und Künstlerinnen zwischen Kommodifizierung, Gentrifizierung, sozialem Engagement und Vereinnahmung tatsächlich steht und wie viel – oder wie wenig – die nach Aufmerksamkeit heischenden Das-Neue…-Schlagzeilen mit der Realität der Stadt zu tun haben. Auch Scott Hocking ist Künstler in Detroit und hat für dérive einen Essay verfasst, in dem er erzählt, wie er in der Stadt aufgewachsen ist, sie immer wieder durchwandert hat, wie er begonnen hat sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen und sie nachts fotografisch dokumentiert. Der Magazinteil bringt einen Beitrag des Hamburger Urbanisten Michael Ziehl, der sich am Beispiel des Hamburger Gängeviertels, in dem er selbst seit langer Zeit aktiv ist, ansieht, wie es um die äußerst schwierigen Kooperationen zwischen BürgerInnen und Stadtverwaltungen steht. Das Kunstinsert von Cäcilia Brown trägt den schönen Titel Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster und zeigt u.a. einen raketenförmigen Anhänger, der dem Wiener Wagenplatz Treibstoff als Toilette dient.


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