Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Viele Projekte der Zürcher Wohngenossenschaften aus der jüngsten Vergangenheit sorgen weit über die Schweiz hinaus für Furore: sie bieten Lösungsansätze für aktuelle Fragen der städtischen Entwicklung, die sich in ganz Europa stellen; sie unterstützen soziale Vielfalt; sie verknüpfen Wohnen mit anderen urbanen Funktionen auf neuartige Weise; sie sind groß genug, um auf die umgebende Stadt auszustrahlen; sie experimentieren mit innovativen Programmen; und sie sind architektonisch herausragend. Einen Eindruck von der Entwicklung, die dazu geführt hat, und von aktuellen Rahmenbedingungen und Ausformungen bietet der Band Wohngenossenschaften in Zürich. Gartenstädte und neue Nachbarschaften, der neben einer Reihe von Aufsätzen zum Thema über 50 Projekte detailliert darstellt, die seit 2000 entstanden sind. Wie es der Untertitel formuliert, begann die Geschichte der Zürcher Genossenschaften vor über hundert Jahren mit dem Ideal der Gartenstadt, während heute die Frage der Urbanität neu gestellt wird. Das Thema Gartenstadt ist nach wie vor aktuell, da aufgrund der großen Nachfrage nach Wohnraum in Zürich Abriss und verdichteter Neubau von Siedlungen eine der wenigen Möglichkeiten sind, neuen Wohnraum zu schaffen – die sogenannten Ersatzneubauten. Dabei geht es heute um neue städtebauliche Leitbilder für die Revision der Gartenstadt.
Das Zürcher Genossenschaftsmodell ist, etwa im Gegensatz zum Wiener Wohnbau, kein staatliches Programm, sondern basiert auf Selbstorganisation, allerdings mit Unterstützung der Stadt Zürich, die die gemeinnützigen Wohngenossenschaften als Partner für wohnungspolitische Ziele in Ergänzung zum kommunalen Wohnbau sieht. So wurde bei einem Volksentscheid 2011 festgelegt, dass der genossenschaftliche Wohnungsanteil in Zürich von einem Viertel auf ein Drittel gesteigert werden muss. Zürich bietet den Genossenschaften Bauland im (Erb-)Baurecht, vergibt günstige Darlehen an sie, bietet einzigartige Rahmenbedingungen (sie können mit 6% Eigenmitteln finanzieren) und subventioniert einzelne Wohnungen, die besonders preiswert vermietet werden. Die Genossenschaften müssen im Gegenzug (für Projekte auf städtischem Boden) Architekturwettbewerbe durchführen, Kostenmieten anbieten und hohe Energiestandards erfüllen – und sie geben sich selbst Belegungsvorschriften, d.h. in einer Wohnung darf die Zimmerzahl die Personenzahl nur um 1 überschreiten. Wenn das nicht mehr erfüllt ist, muss umgezogen werden.
Heute gibt es in Zürich über 120 Wohngenossenschaften, die etwa 40.000 Wohnungen besitzen. Die vielen alten Genossenschaften, gegründet zwischen 1910 und 1970, beschränkten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf die Pflege des Bestands und täten das vielleicht heute noch, wenn nicht Zürich in den 1980er Jahren zum Schauplatz von Jugendrevolten und Hausbesetzungen geworden wäre. Im Zuge dieser politischen Auseinandersetzungen entstanden Ideen für eine neue Kultur des Lebens in der Stadt, bekanntester Ausdruck dessen ist das Konzept der bolos von P. M., das die Utopie eines Netzwerks autarker, nicht-hierarchischer Kommunen beschreibt. Aus diesen Vorstellungen eines ganzheitlichen Wohnens und Arbeitens entstanden erstmals neue Genossenschaften als rechtliche Hülle für urbane Sanierungsprojekte: die Gruppen Karthago, organisiert als Großhaushalt, und Dreieck mit 60 Wohnungen und 30 Gewerbeeinheiten. Seit Ende der 1990er Jahre, als sich die politischen Verhältnisse in Zürich wandelten und die Stadt wieder zu wachsen begann, entstanden aus diesem Umfeld die auf Neubau orientierten Genossenschaften Kraftwerk1, Kalkbreite und mehr als wohnen!, die schließlich den Großteil jener Projekte realisierten, die heute international wahrgenommen werden. So sind etliche der ehemaligen HausbesetzerInnen heute Vorstände von Genossenschaften.
Aus dieser Entwicklung leiten sich wichtige Charakteristika der heutigen Projekte ab. Die wohntypologischen Innovationen der Gegenwart sind eine Fortsetzung der Wohnideen aus den 1980er Jahren, ebenso wie die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten und der integrative, auf Vielfalt bedachte Ansatz der Projekte. Die komplexen und differenzierten Programme werden nach dem Modell der so genannten generischen Partizipation entwickelt. Das heißt, dass sich größere Gruppen von Menschen an der Entwicklung beteiligen, die sich als verantwortliche StadtbürgerInnen sehen, statt dass bloß die zukünftigen BewohnerInnen selbst ihren eigenen Lebensraum entwerfen. So bleiben die Konzepte mit dem sozialen Umfeld verknüpft und durch die Vielfalt der Einflüsse steigt die Chance für innovative Ansätze.
Der Band präsentiert im Hauptteil, nach Darstellungen zur Geschichte des Zürcher Genossenschaftswesens, seiner Bedeutung für die Stadt und der Kooperation zwischen Stadt und Genossenschaften, zunächst mehr als 40 genossenschaftliche Projekte, geordnet nach städtebaulichen Kriterien, von der Verdichtung der Gartenstadt über Großformen bis zu Block- und Straßenbildung. Jedes Projekt bekommt ausreichend Platz mit Plänen, Fotos und beschreibenden Texten. Dann leiten zwei Artikel als Intermezzo zu Wohntypologien und zur Geschichte der neuen Genossenschaften über zu den bekannten, besonders innovativen Projekten der jungen Genossenschaften, die somit als Kulminationspunkt einer hundertjährigen Geschichte gezeigt werden. Sie verfolgen dabei neue Ziele, die sie von historischen Genossenschaftsbauten ebenso wie vom Standard heutiger Genossenschaftsprojekte unterscheiden:
Durchmischung, Verschiedenheit, Urbanität. Das beginnt 2001 beim Projekt Hardturmstraße von Kraftwerk1, dem Pionierprojekt in der Industriebrache in Kreis 5, das noch stärker als die späteren Entwicklungen von Baugemeinschaftsprojekten anderswo beeinflusst ist, etwa von der kurz zuvor fertiggestellten Wiener Sargfabrik. Die sehr vielfältigen Wohnungsgrundrisse folgen zwei Modellen, dem Adolf-Loos-Typ mit unterschiedlichen Raumhöhen sowie dem halb durchgesteckten Le-Corbusier-Typ. Zehn Jahre später folgte Heizenholz, ebenfalls von Kraftwerk1, bestehend aus zwei umgebauten Gebäuden eines alten Kinderheims, zwischen die großzügige Gemeinschaftsterrassen und ein neuer Bauteil eingefügt wurden. Hier entstand erstmals der Typus der Clusterwohnung, der eine Reihe von Kleinstwohnungen rund um einen gemeinschaftlichen Wohn- und Essbereich versammelt. Kurz danach im Jahr 2014 konnte die neu gegründete Genossenschaft Kalkbreite ihr eindrucksvolles erstes Projekt in Außersihl über einer Straßenbahnremise realisieren. Das Haus umfasst 40 Prozent Gewerbeflächen. Alle Wohnflächen sind entlang einer großzügigen Rue Intérieure angeordnet, neben Großhaushalten und Groß-WGs sind hier die Kleinwohnungen wiederum zu Clustern entlang der Erschließungsstraße versammelt und teilen sich Gemeinschaftsflächen. Zusätzlich gibt es Jokerzimmer, also Einzelräume, die zur Wohnung dazugemietet werden können. Einen großen Schritt weiter ging schließlich 2015 das Projekt mehr als wohnen! am Hunziker-Areal, entwickelt zum hundertjährigen Jubiläum des Zürcher gemeinnützigen Wohnbaus durch eine neu gegründete Genossenschaft, deren Mitglieder etwa 50 bereits bestehende Genossenschaften sowie diverse andere Institutionen und Einzelpersonen sind. mehr als wohnen! ist ein kleiner Stadtteil aus 13 Häusern, darunter wieder ein Gebäude mit Cluster-Wohnungen. Städtebauliches Grundelement der Anlage sind die dicken Typen, bis zu 32 Meter tiefe Baukörper, die nicht nur für die Ausbildung urbaner Freiräume sorgen, sondern auch ungewöhnliche Erschließungs- und Wohnräume ermöglichen. Das Projekt umfasst darüber hinausgehend eine Fülle von sozialen und betrieblichen Innovationen, die den Rahmen dieser Rezension sprengen würden. Die jüngste Realisierung der Reihe ist Zwicky-Süd, wiederum von Kraftwerk1 errichtet, diesmal nicht in innerstädtischer Lage, sondern an der Peripherie von Zürich gelegen – ein ehemaliges Industrieareal, das von Autobahnzubringern und Hochbahntrassen umschlossen ist. Entsprechend härter fiel die architektonische Anmutung aus, und entsprechend wichtig ist wieder die Kombination von Wohnen und Gewerbe. Die dicken Typen werden hier weiterentwickelt, so gibt es sehr tiefe Wohnungen mit weniger gut belichteten Mittelzonen, die als Lager, Bibliothek oder Partyraum verwendet werden können. Diese Baukörper eignen sich außerdem hervorragend für Betriebe oder Bildungseinrichtungen in den unteren Geschoßen. Auch hier wird eine Vielfalt von Grundrisstypen angeboten, von Kleinwohnungen über Ateliers bis zu Maisonetten. Ein Schwerpunkt liegt auf betreuten Wohnformen und der Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten. Und schließlich wird ein Projekt dargestellt, das noch nicht realisiert ist, das zweite der Genossenschaft Kalkbreite namens Zollhaus. Auch hier wird das Experiment mit Typen weitergeführt, neben Clustern und Jokerräumen gibt es erstmals das Modell Hallenwohnen, das heißt 300 m2²große Wohnhallen im Rohbau, die von den BewohnerInnen selbst adaptiert werden – ganz wie damals in den besetzten Häusern. Nicht zuletzt aufgrund der Lage an einer Bahntrasse ist hier wieder ein hoher Gewerbeanteil wesentliches Projektelement.
Auch wenn die Züricher Kaufkraft und deshalb auch die Mietpreise erheblich über dem liegen, was man in den Nachbarländern gewohnt ist, sind die gemeinnützigen Genossenschaftswohnungen in Zürich aufgrund der Kostenmiete erheblich preiswerter als alles, was der Markt hergibt, obwohl die Standards hoch und die mit den Wohnungen verknüpften Angebote umfassend sind. Die Marktmieten in Zürich liegen im Schnitt etwa 40 Prozent über den Genossenschaftsmieten – im Vergleich dazu beträgt diese Differenz in Wien (zwischen freiem Markt und Gemeinnützigen) derzeit nur etwa 15 Prozent. Der Anteil von gebundenen Mieten ist in Wien allerdings bekanntlich viel höher, sodass dieser preiswerte Wohnungsbestand die Mieten auch am freien Markt drückt, was in Zürich nicht in diesem Ausmaß möglich ist. Zusätzlich gibt es in den Genossenschaftsprojekten einen Anteil von städtisch subventionierten Wohnungen für BewohnerInnen mit geringeren Einkommen. Diese Wohnungen sind nochmals etwa ein Viertel billiger. Dazu kommt, dass sich viele der genossenschaftlichen Projekte eine vielfältige Mischung der BewohnerInnen als Ziel setzen, so legte man bei mehr als wohnen!, ähnlich wie zuvor bereits in der Kalkbreite, höchsten Wert auf soziale Durchmischung und verwendete ein webbasiertes Mieterdaten-Monitoring, um für die 370 Wohnungen die richtige Zusammensetzung zu finden. Ursache für die typologischen Experimente sind neben wohnkulturellen Aspekten natürlich der Kostendruck in Zürich, aber auch die Nachhaltigkeit des Wohnens: Jeder Quadratmeter, der nicht beheizt werden muss, spart CO2.
Der neue Band zu den Wohngenossenschaften in Zürich zeigt erstmals die bekannten (und teils noch unbekannten) innovativen Zürcher Projekte in der Zusammenschau und in ihrem Kontext, mit Bezug zur Geschichte der Zürcher Wohnbau- und Stadtentwicklung. Eine wichtige Besonderheit des Zürcher Modells ist die Eigentumsfrage – diese Häuser gehören nicht der öffentlichen Hand, gemeinnützigen Gesellschaften oder InvestorInnen, sondern tatsächlich »denen, die drin wohnen«, allerdings nicht jeweils allein, sondern gemeinsam. Das Grundstück, auf dem diese Häuser stehen, gehört hier meist der Stadt. Auch wenn Zürich nicht den Rang der Hauptstadt des sozialen Wohnbaus für sich reklamieren kann – dieser steht nach wie vor Wien zu –, so ist doch festzustellen: Die spezifische Zürcher Kombination von sozialem Anspruch, Selbstorganisation und Urbanität, die aus diesen innovativen Projekten spricht, ist einzigartig. Dieser Zugang fehlt meist den – ebenfalls im Band präsentierten – Ersatzneubauten an der Zürcher Peripherie, die vielfach billige, kleine durch teurere und größere Wohnungen ersetzen.


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