Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Anny Roberts früheste Erinnerungen schildern ein Wien, wie es aus vielen anderen Erzählungen ganz ähnlich bekannt ist. Die 1909 Geborene wuchs als assimilierte Jüdin im bürgerlichen neunten Bezirk auf. Der Vater, ein kleiner Bankbeamter, wird als sehr belesener, musikliebender und liebevoller Vater geschildert, die Mutter als einerseits streng und dominierend, in ihrer Erziehung andererseits aber auch sehr frei und fortschrittlich. Das kulturelle Leben umfasst häufige Operetten- und Theaterbesuche, besondere Erwähnung finden Mozarts Zauberflöte in der Volksoper und Charlie Chaplins The Kid bei einem Kinobesuch der Volksschülerin.

Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf das Leben der kleinen Anny schildert die Autorin indirekt. Man erfährt, dass die Schule in ein Kriegslazarett umfunktioniert wurde und dass die Kinder wegen Unterernährung regelmäßig Frostbeulen hatten. Diese Unterernährung führt auch dazu, dass das Mädchen 1919 wegen der schlechten Ernährungslage wie viele andere Kinder von Hilfsorganisationen zu einer Familie ins Ausland verschickt wird. Ihr Aufenthalt in Aarhus/Dänemark, der sich später noch mehrfach wiederholte, war jedoch weit mehr als ein Aufpäppeln. Sie schloss Freundschaften, die ihr in späteren Krisenzeiten wie ein „Rettungsanker“ erschienen. Besonders erinnert sich die Autorin an das völlige Fehlen von jeglichem Antisemitismus, mit dem sie in Wien ebenso wie mit dem Deutschnationalismus schon als Kind konfrontiert worden war: Antisemitische Bemerkungen von LehrerInnen, MitschülerInnen, die plötzlich Kriemhild oder Brunhild genannt werden wollten und der Deutsche Turnverein mit seinem haken-kreuzähnlichen Abzeichen. Mit aggressiv-bedrohlichem Antisemitismus sah sich die nunmehr junge Frau gemeinsam mit FreundInnen 1929 beim Schiurlaub im salzburgischen Saalbach konfrontiert: Hakenkreuzabzeichen tragende Jugendliche pöbelten die Gruppe äußerst aggresiv an, woraufhin ihr empfohlen wurde, aus Sicherheitsgründen den Urlaub abzubrechen, was sie schließlich auch tat.

Ab 1932/33 wurde im persönlichen Umfeld von Anny Robert immer öfter von einer Auswanderung nach Palästina gesprochen. Sie schreibt: „Es war ganz sicher nicht der Zionismus, sondern einzig und allein ein ,Muss‘, das dazu führte, dass ich in Palästina landete.“ Ihr Lebensgefährte und späterer Mann, Hans Robert, reiste zuerst ab, sie kam ein Jahr später, nach einem schweren Abschied von den Eltern und FreundInnen, nach. Das Paar lebte zu Beginn in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in Tel Aviv. Der Alltag war gekennzeichnet durch die Faszination des Neuen, Armut, ein schwieriges Eheleben und Heimweh nach Wien. Durch viele kleine Beobachtungen bekommt man ein Bild des jungen Tel Aviv. Kontakte gab es in der Anfangsphase hauptsächlich zu anderen Flüchtlingen aus Wien, sie vermissten das Theater und luden sich samstags zu Kaffee und Gugelhupf ein. Immer wieder trafen aus Wien geflüchtete, mittellose Bekannte ein, die für die erste Zeit aufgenommen wurden, was bei den ohnehin beengten Wohnverhältnissen sehr belastend war. Eine geräumigere Wohnung war das erste große Ziel, das es zu erreichen galt. Das schwierige Exilantenleben und vor allem die unglückliche Ehe führten bei Anny Robert zu einer schweren Depression. Die spätere Trennung von ihrem Mann ließ ein neues freieres Leben beginnen.

Besonders beeindruckend an Anny Roberts Buch ist ihre schonungslose Offenheit. Die HerausgeberInnen Daniela Ellmauer und Albert Lichtblau schreiben im Anhang zu Recht, dass Roberts Autobiografie deswegen auch als Quelle für die Gender Geschichte einen wertvollen Beitrag liefern kann. „ ... selten wird in autobiografischen, im Emigrationszusammenhang stehenden Texten so offen über den weiblichen Körper und das fragile Selbstbild einer Frau geschrieben.“ Erst sehr spät, im Alter von 56 Jahren, hat Anny Robert, eine ausgebildete Schneiderin, zu schreiben begonnen. Neben ihren Lebenserinnerungen hat sie auch Gedichte verfasst, von denen im vorliegenden Buch einige abgedruckt sind.


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