Ein Ort des Gegen
Das Konzept des ORTES DES GEGEN entstand im Zusammenhang des Projektes BORG von Inga Svala Thorsdottir. Ursprünglich als Beitrag zu der utopischen Stadt BORG, die auf Island entstehen und eine Million Menschen aufnehmen soll, entwickelt, zeigte sich schnell, dass der ORT DES GEGEN keineswegs regionalen oder geografischen Begrenzungen unterliegt, sondern im Gegenteil ein nomadisierendes Phänomen von weltweiter Bedeutung darstellt. Daraus ergab es sich natürlich, dass auch meine Überlegungen zum ORT DES GEGEN immer weitere Kreise zogen. Aber zunächst zur Definition des ORTES DES GEGEN ALS EIN Teil BORGs.
I
Der ORT DES GEGEN nimmt genau genommen keinen Platz ein. Er kann an jeder beliebigen Stelle in Erscheinung treten. Der ORT DES GEGEN befindet sich fortwährend in Bewegung. Er tritt kurzfristig an den inneren und äußeren Rändern BORGs aus dem städtischen Organismus aus (denn BORG ist, nach allem, was wir über es wissen, genau das). Voraussetzung für den ORT DES GEGEN ist ein Stillstand oder Versagen koordinierter Abläufe, der städtischen Funktionen: der ORT DES GEGEN ist unter anderem eben der Ort, an dem der Müll liegen bleibt. Der ORT DES GEGEN ist die Rückseite der Utopie, die dritte Dimension. Er kann an allen nicht oder eher provisorisch definierten Plätzen zu Tage treten, an allen Ecken und Enden der Stadt.
Der funktionale Stillstand ist ein partieller, eine zeitweilige und örtlich begrenzte Bruchstelle (aber keine Sollbruchstelle) in den glatten und eleganten Abläufen, die Fortdauer und Effizienz der Stadt BORG gewährleisten: Aus Gründen, die ich zurzeit noch nicht zur Gänze überblicke, die aber dennoch zwingend sind, wird sich in der Nähe des ORTES DES GEGEN häufig eine Imbissbude oder die Filiale einer Burgerkette befinden. An beider Einrichtungen Effizienz und Funktionalität kann nicht gezweifelt werden.
Der ORT DES GEGEN bezweifelt eine Bruchstelle für zweckfreie Negation, insbesondere für ein zweckfreies Vergehen von Zeit, materialisiert in der Zunahme/Anhäufung von Abfall (hallo broken-window-Theorie). Irgendwo zwischen zum Stillstand kommen und radikaler Freisetzung. Am ORT DES GEGEN können die Einwohner BORGs zweckfrei und sinnfrei aufeinander treffen, es ist aber auch das Gegenteil oder gar nichts möglich. Am ORT DES GEGEN wachsen – wie erwähnt – die Halden: Halden an Zeit und Langeweile, Überfluss und Abfall.
Die Stadt BORG ist bisher noch ein Projekt, sie befindet sich noch im Stadium der Planung. Viele Aspekte BORGs sind noch nicht hinreichend erforscht, insbesondere die Ökonomie der Stadt befindet sich allenfalls im Frühstadium der Planung. Der ORT DES GEGEN lässt sich derzeit nur grob als etwas beschreiben, was zu Borg dazu gehört und in der Stadt irgendwie wirksam ist. Da die Ökonomie der Stadt ungeklärt ist, hier nur soviel: Unter kapitalistischen Bedingungen nimmt der ORT DES GEGEN die Form umfassender Verwertungsverweigerung an.
II
An diesem Punkt lag es nahe, den ORT DES GEGEN auch im alltäglichen städtischen Umfeld aufzuspüren. Daran schließt sich die Fragestellung an, wie sich die umfassenden Verwertungsverweigerung am ORT DES GEGEN manifestiert und/oder aufzeigen lässt, zumal die Verwertungsverweigerung ja auch in Abhängigkeit zum Ort steht. Es ist also nicht damit getan, einfach irgendwelche Plätze aufzusuchen, an denen irgendwelche Leute abhängen. Aber es können natürlich nur die Leute sein, die irgendwas verweigern, demzufolge wären potenzielle ORTE DES GEGEN solche, an denen Verweigerungshandlungen stattfinden und/oder solche, die in Leuten Verweigerungswünsche hervorrufen könnten. Derartige Orte müssen sich ihrer Natur nach und in ihrem Erscheinungsbild nicht grundlegend von dem sie umgebenden Stadtraum unterscheiden, tatsächlich sind etliche dieser möglichen ORTE DES GEGEN in das städtische Gefüge eingebunden und erfüllen klar umrissene Funktionen. Sie können als ORTE DES GEGEN angesehen werden, wenn sie über ihre Funktionalität hinaus noch andere, diffusere Qualitäten aufweisen: den erwähnten Mangel an Definition, in der Form fahrlässig liegen gelassener Eigenschaften. Parkplätze und der Raum unter Brücken sind Beispiele hierfür: Brücken sind sehr zweckmäßige und nützliche Dinge, aber der Raum darunter ist unnütz und unbedeutend, sofern es sich dabei nicht um Wasser handelt. Das Erdreich um die Brückenpfeiler herum ist der ORT DES GEGEN. Parkplätze sind dagegen dermaßen zweckmäßig, dass ihre Funktionalität nur einen geringen Platz ihres Raums einnimmt. Aus diesem Grund ziehen sie auch Zigaretten rauchenden und Alkohol konsumierende Teenager an.
Den ersten ORT DES GEGEN, der mir bewusst auffiel, fand ich vor einigen Jahren am Hamburger Holzhafen. An eine triste, kackgelbe Backsteinmauer hat ein unbekannter Konzeptkünstler das Wörtchen »Nein« geschrieben. Das gefiel mir so gut, dass ich es dupliziert und in mein künstlerisches Konzept aufgenommen habe.
Einen zweiten ORT DES GEGEN fand ich etwa zur gleichen Zeit hinter meinem damaligen Wohnhaus im am dichtesten besiedelten Stadtteil Hamburgs. Ich wohnte in einem Haus in einer halben Reihe von Passagenhäusern. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich keine Häuserreihe, sondern ein Baulager. Auf der Rückseite der Häuserreihe gibt es einen weiteren Weg, der eigentlich nirgendwo hin führt. Durch einen Torweg geht es abwärts, links an einer Mauer, rechts an den Häusern entlang. Wenn es der Zweck dieses Weges ist, die Hinterseite der Häuserreihe erreichen zu können, übererfüllt er diese Funktion bei weitem. Über die Häuserreihe hinaus geht es im Zickzack weiter, zwischen Mauern, Schutt und den Rückseiten anderer Häuser entlang, durch Brennnesseln und Holunderbüsche. Auf jeden Schritt wird das Gelände vermüllter, wobei es unklar bleibt, wie der Müll dahin gekommen ist. Sind da welche mit Abfallsäcken durch die Brennnesseln gekrochen, weil ihnen die Müllcontainer zu konventionell sind? Irgendwann geht es wirklich nicht mehr weiter auf diesem absurden, verwinkelten Streifen zwischen den Grundstücken, und da muss der ORT DES GEGEN sein. Wo auch, wenn nicht hier. Man könnte dort mitten zwischen den Häusern eine Leiche herumliegen lassen, und niemand würde sie bemerken. Tage- oder wochenlang.
Dies sind also zwei bemerkenswerte Orte aus meinem unmittelbaren Wohnumfeld, aber natürlich ist der Nachweis nur dann stichhaltig, wenn ich den ORT DES GEGEN auch noch woanders als in meinem unmittelbaren Umfeld aufspüren kann. Wie könnte ich sonst behaupten, dass der ORT DES GEGEN tatsächlich ein nomadisierender Ort ist, und all das andere. Den Nachweis werde ich mittels des gegen/Gagnstadur-Transparents führen, das ist gegen auf Deutsch und ORT DES GEGEN auf Isländisch. Warum sollte der Verweischarakter dominierender Sprachen nicht durch den Verweischarakter einer minoritären Sprache unterlaufen werden.
Es hat sich ergeben, dass der erste Ort der Beweisführung Stuttgart war, eine Stadt, der man es auf den ersten Blick nicht zutrauen möchte, dem ORT DES GEGEN all zu viele Aufenthaltsorte anzubieten. In Wirklichkeit kann der ORT DES GEGEN natürlich fast überall temporär auftauchen, und die Stadt Stuttgart ist von Stadtplanung dermaßen verwüstet, dass der ORT DES GEGEN dort reiche Gelegenheit findet, sich temporär oder auch längerfristig anzusiedeln.
Ich habe in der Stadt Stuttgart also etwas herumrecherchiert und bin auch auf ein paar viel versprechende Orte gestoßen. Der Parkplatz an der Adlerstraße unterbietet in seiner anspruchslosen Wohlgefälligkeit noch das übliche Parkplatzniveau. Es ist vielleicht der nichts sagendste Ort, den man sich überhaupt vorstellen kann.
Einen weiteren dieser Orte möchte ich etwas eingehender beschreiben, ein »leeres«, weil brachliegendes Gelände zwischen den Fern- und Rangierbahngleisen auf der einen Seite und Bürobauten und einem Multiplexkino auf der anderen Seite. Das Wörtchen »brachliegen« bezeichnet den Zustand des Nicht-Genutzt-Werdens, den Nichtgebrauch, also ein Nichts. Ich werde mir Mühe geben, dieses Nichts etwas eingehender zu beschreiben. Auch hier geht es nach unten, auf dem Rest einer von Baumaschinen hinterlassenen Fahrspur. Die Fahrspur führt direkt auf das Multiplex zu, und ist schon weitgehend mit Gras überwachsen. Im hinteren Teil des Geländes hat sich zu beiden Seiten des ehemaligen Fahrwegs ein Robinienwäldchen angesiedelt. Im vorderen Teil des Geländes ist eine weite Wiese über die Trümmer gewachsen. Am Rande sieht man noch Mauerreste und kaputte, alte Ziegelsteine und darüber moderne Bürobauten mit blau und dunkelrot lackierten Aluminiumelementen. Vermutlich sind hier die Fundamente anderer, baufälliger oder im Krieg zerstörter Bauten einplaniert worden, und so ist dieses kleine Tal entstanden. Hier leben Füchse, in Sicht- und Hörweite des Multiplex, aber vermutlich weitgehend unbemerkt. Vielleicht ist es auch nur ein Fuchs, der hier lebt und es sich mitten am Tag auf dem Weg bequem gemacht hat. Das kleine Wäldchen und die Wiese scheinen zu ihrem räumlichen Umfeld nur in vager Beziehung zu stehen, das ist im Wortsinn ein Ort der Halden und des funktionalen Stilltands, eine schöne Wiese. Hier finden sich Coladosen und absurde kleine Plastikstückchen. Ein unbekannter Künstler (noch so jemand) hat hier aus kaputten CDs und alten Ziegelsteinen eine Spirale gelegt. Ich wundere mich und verlasse diesen Ort, den ORT DES GEGEN.
III
Soweit also meine Stuttgarter Recherchen im Sommer 2003. Im Anschluss möchte ich Ihnen noch einen weiteren möglichen ORT DES GEGEN, wieder aus Hamburg, vorstellen, das Park-Café in Hamburg-Altona. Ich glaube, es ist bis jetzt deutlich geworden, dass der ORT DES GEGEN vor allem durch sein Umfeld definiert ist. Ein Robinienwäldchen mit einem Fuchs darin irgendwo am Rand einer Bahnstrecke wäre irgendwo in der Lüneburger Heide nicht weiter erwähnenswert. Auch über das Park-Café lässt sich sagen, dass es an sehr vielen, wenn nicht dem Großteil der Orte, einfach ein unauffälliger Teil der Szenerie wäre und keinesfalls als ORT DES GEGEN zu bezeichnen.
Inmitten eines kleinen Nachbarschaftsparks mit renaturierten Schutthügeln als Spielplatz für die Kleinen und einer Skater-Anlage mit Halfpipe angesiedelt, besteht das Café aus zwei durch eine Überdachung miteinander verbundenen Baracken. Garagen wäre vielleicht die treffendere Bezeichnung. Die eine ansonsten kahle Garage ist mittels einiger Plastiktische und –stühle notdürftig zum Caféraum erklärt worden, in der anderen befinden sich der Tresen und der mit betriebene Süßigkeiten- und Zeitschriften- (BILD, Frau im Spiegel) Kiosk. Alles in allem ein Ort, der in keinem Freibad deplatziert wirken würde und der auch vergleichbar gut besucht ist: Der Park und das Parkcafé sind der Vierteltreff. Das vielleicht Kunstvollste am Parkcafé ist das Wände füllende Graffito, mit dem es besprüht ist: Es ist aber wohl das Ergebnis einer sozialpädagogischen Beschäftigungsmaßnahme für SchulschwänzerInnen.
Was diesen Ort zum ORT DES GEGEN macht, ist seine Lage an der Schnittstelle von St. Pauli und Altona. 200 m von dort beginnt das Amüsierviertel von St. Pauli, und auch Altona verfügt über eine große, ausdifferenzierte und passgenau auf die Bedürfnisse der Kundschaft zurecht designte Kneipenszene. Inmitten dieser großstädtischen, sich teils kommerziell, teils bohemistisch und subkulturell gebenden Szenerie kann ein solches Stück verirrte Vorstadt nur ein ORT DES GEGEN sein.
Annette Wehrmann