» Texte / Ein Park als Exempel von Überschreitungen

Erik Meinharter


Die Sammlung an Beiträgen basiert auf einem Symposium, welches 2015 im Haus der Kulturen in Berlin stattgefunden hat. Die Struktur des Buches entspricht den Arbeitsgruppen des Symposiums. Transgression bildet den roten Faden. Das Überschreiten von Erbe, Urbanismus, Ökologie und Humanismus ist die zentrale Idee, welche sich im Berliner Tiergarten als großem innerstädtischen Park widerspiegeln soll. Er dient dabei als Exempel. Schon in der Bezeichnung als »Tiergarten« lässt sich seine Vielschichtigkeit erkennen.
        Beginnend mit der Umgestaltung des namensgebenden Jagdreviers im Auftrag von Friedrich dem Großen durch von Knobelsdorff in einen Lustpark im 18. Jahrhundert und der späteren Überplanung durch Peter Josef Lenné im 19. Jahrhundert zu einem Park im Stile der englischen Landschaftsgärten sind Transformationen in diesem urbanen Freiraum konstituierendes Element. Der radikalste Schritt geschah direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als fast der gesamte Baumbestand von 200.000 Bäumen für Heizzwecke der notleidenden Bevölkerung gefällt wurde und die Flächen danach für den Anbau von Gemüse parzelliert wurden. Auf dieser Bruchlinie basierend wurde der Park neu aufgebaut, jedoch nicht rekonstruiert. Die vorhandenen historischen Elemente wurden von Alverdes in den 
Erholungspark integriert, obwohl das Ziel der vielseitigen Pflanzengesellschaften sich stärker an einem ökologischen Ansatz orientierte. Die Bedeutung dieser Pflanzengesellschaften erhöhte sich dann mit der Teilung Berlins, als der Wert naturnaher Räume im eingeschlossenen Westen stieg. Die Pflegestrategien wurden extensiviert und diese besondere Situation in der eingeschlossenen Stadt ermöglichte dann NaturwissenschaftlerInnen wie Herbert Sukopp, den Fokus der Ökologie auf die städtischen Pflanzengesellschaften zu richten. Die Berliner Schule der Stadtökologie erlebte so ihre Gründung. All diese Schritte sind im Raum eingeschrieben und generieren die Bedeutung des Tiergartens in Berlin. Durch Bautätigkeiten am Rand und rekonstruierende Entwicklungen in den letzten Jahren scheint dieser besondere Raum in Gefahr zu geraten. Anders als zum Beispiel das Gleisdreieck besitzt der Tiergarten viele historische Schichten der Planung und Nutzung, die sich nicht mit einem simplen Kniff wieder in einen Park des 19. Jahrhunderts verwandeln lassen. Die Frage, welches die richtige Zeit der historischen Rekonstruktion ist, kann in einem so stark überformten und überschriebenen Raum nicht beantwortet werden. Anders als bei gering veränderten historischen Gärten gibt es keinen bestimmenden Planstand, nach dem das Parkpflegewerk ausgerichtet werden kann.
        Der aus dieser Geschichte lesbare mehrschichtige urbane Freiraum des Tiergartens dient den AutorInnen zumeist als Anknüpfungspunkt, seltener als Untersuchungsgegenstand, jedoch immer als Beispiel für die Überschreitungen. Jede dieser Überschreitungen generiert eine Frage. Diesen Fragen versuchen sich die Buchbeiträge zu stellen. Wie erwähnt ist die Frage an das Erbe und die Authentizität eine zentrale Frage beim Diskurs über diesen Raum als Exempel. Ein Beitrag nähert sich dem über die Bedeutung und das Verhältnis von Milieu, Territorialität und Umwelt, den Ansätzen von Uexküll (Alessandra Ponte) folgend. Ein anderer erläutert die Kraft und das Erbe des Kollektivplans direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs, der zwar für den Tiergarten nicht angewendet wurde, jedoch trotzdem einen prägenden Schritt für dessen Zukunft darstellte (Gunnar Klack). Doch eingedenk der Genese eines solchen Raums sollte die Forderung immer sein, dass Denkmalschutz in der Lage sein müsste, diese multiple Geschichte in einem Ort zu akzeptieren (Luise Rellensmann).
        Dass dieser Ort und vor allem auch das Prinzip Landschaft die zeitlichen Rahmen des Urbanismus in Frage stellen können, behandelt einer der stärksten Beiträge in diesem Buch (Sandra Parvu und Piero Zanini). Denn die Lösung weg von der sich nach einem (!) Zielzustand orientierenden Stadtplanung hin zu einer flexibleren auf die Entwicklungen reagierenden Planung – ganz der Strategie der Landschaftsarchitektur folgend – wäre den AutorInnen folgend zukunftsweisend. Diese wäre dann auch näher an den Zeitrahmen und -vorstellungen der in dieser Stadt lebenden Bevölkerung angesiedelt. Hier wird nicht ein fiktionales Ziel gesetzt, welches erreicht werden muss, sondern über Zwischenschritte eine Entwicklung in Gang gesetzt.
Faszinierenderweise wird im Buch, vor allem anhand des Beitrags von Sandra Bartoli, deutlich, wie aktuell die Strategien der urbanen Biotopkartierung, des Biotopmonitoring und des Artenschutzprogramms Berlins in den 1980er-Jahren eigentlich in der heutigen Stadtplanung wären. Alleine die in Faksimile abgebildeten Strategien der Pflege- und Entwicklungsprogramme für Biotoptypen zeigen, wie fortschrittlich sie in einer heutigen Anpassung der Stadt an den Klimawandel wären. Manche Beiträge im Buch sind dann doch eher ergänzende Parallelgeschichten, die etwa die Reaktion importierter einzelner Tierarten auf die urbane Struktur (Fahim Amir), oder das Bewusstsein der Pflanzen behandeln (Stefano Mancuso), welche zwar aufschlussreich sind, aber wenig zur Erläuterung der gestellten Fragen beitragen.
        Am wirkungsvollsten werden die Fragen der Übertretungen dann behandelt, wenn sie direkt an den Tiergarten gestellt werden. Hier wird sichtbar, dass es eine kontroverse jüngere Entwicklung gibt, welche die im Park eingeschriebene und lesbare Geschichte negiert. Mehrere Beiträge arbeiten sich an diesen Qualitäten ab und es verwundert doch zu lesen, dass das aktuelle Parkpflegewerk sich mehr der Rekonstruktion punktueller historischer Zustände widmet als sich der stadtökologischen und gesellschaftlichen Besonderheit dieses Parks in Zeiten des Klimawandels zu widmen.


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