Ein unverzichtbarer Atlas zur olympischen Region Sotschi
Besprechung von »The Sochi Project. An Atlas of War and Tourism in the Caucasus« von Rob Hornstra und Arnold van Bruggen»Ziel des Olympismus ist es, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist.« So ein Grundsatz der Olympischen Charta. Tatsächlich waren die Olympischen Winterspiele im subtropischen Sotschi, Vladimir Putins politisches Prestigeprojekt, wohl das kontroversiellste überhaupt: Terrorgefahr, Umweltsünden, Zwangsumsiedlungen, Enteignungen, Vertreibungen, Homophobie, mundtot gemachte KritikerInnen, unbezahlte LohnarbeiterInnen, abbröckelnde Menschenrechte, Kostenexplosion und Korruption. In welch konfliktreiche Landschaft dieses 18-tägige Spektakel implementiert wurde und was dies für die Menschen vor Ort bedeutet, versucht das Projekt des Fotografen Rob Hornstra und des Autors Arnold van Bruggen zu fassen. Zwischen 2009 und 2013 reisten die beiden Niederländer elf Mal in die olympische Region und erarbeiteten einen Atlas zu Krieg und Tourismus, der in der offiziellen russischen Geschichtsschreibung, sowie in den hegemonialen Medien und Diskursen unerwünscht ist. Das vielschichtige Sotschi-Projekt wird im Kunstkontext verhandelt. Eine aussagekräftige Auswahl war zuletzt im Fotohof in Salzburg zu sehen; 2010 haben Hornstra und Bruggen für dérive, Heft 40/41, ein Kunstinsert zum Thema Sotschi gestaltet.
Andrew Phelps, Kurator der Salzburger Ausstellung, hat zentral in der Galerie einen Büchertisch mit acht aus dem Projekt entstandenen Publikationen aufgestellt: Publikationsreihe wie Ausstellung beginnen in Sotschi. Sanatorium (2009) zeugt von einem charmanten, bereits in die Jahre gekommenen Kurort und seinen Gästen. Auch die beiden Niederländer schlüpften in diese Rolle und ließen sich zwei Wochen lang behandeln. Dem Live-Ticker- und Turbojournalismus – wie ihn die Berichterstattung der Spiele einfordert – setzen Hornstra und van Bruggen die Methode des Slow Journalism entgegen: ausgelotete Bildkompositionen, analoge Fotografie und jahrelange Recherche als Gegenstück zur Sensationsökonomie, die mit einer Überfülle von Reizen und Eindrücken handelt. Adler, Region Sotschi (2009) zeigt ein von abchasischen Flüchtlingen bewohntes prekäres Zuhause – einen Waggon, mit Verschlägen aus Holz und dünnen Plastikplanen vergrößert – am Stadtrand in einer von Landwirtschaft geprägten Umgebung. Der kurze Begleittext erklärt, dass dieses Stück Land einer Sowchose enteignet und für kurze Zeit von Flüchtlingen bearbeitet wurde, bevor es Teil des Olympia-Geländes wurde. Texte wie Bilder legen davon Zeugnis ab.
Fehlerhaftes analoges Material, das die Sensibilität des Mediums visualisiert, wurde in zweien der Sketchbooks publiziert: Strahlungen in den Sicherheitsschleusen der Shopping Malls haben Spuren auf dem Filmmaterial hinterlassen und werfen Fragen zum Thema Sicherheit, Sichtbarkeiten und Zerstörung auf. Weiters produzierte ein kaputter Filmtransporter einer alten, während der Reise geschenkt bekommenen »Kiev Kamera« doppelt belichtete Aufnahmen, die ebenfalls in eine Publikation überführt wurden. Die Bücher dienten in ihrer Fülle auch als Give-aways für die vielen UnterstützerInnen des auch über Crowdfunding finanzierten Projektes. Eine im Hinblick auf die Spiele wichtige und umfangreiche Publikation handelt von der Konfliktzone Abchasien: Empty land, Promised land, Forbidden land (2011). Statt eines gemeinsamen Skigebietes hat das nur 8 km vom nördlichen Ski-Cluster entfernte Abchasien jetzt ein 15 km breites militarisiertes Niemandsland, das Terroristen aus dem Nordkaukasus davon abhalten soll, nach Sotschi zu kommen. Nach diesen drei geografischen Anhaltspunkten waren die Kapitel in der Ausstellung gegliedert.
Der Diptychon einer Architekturruine aus der Sowjet-Ära könnte beinahe als ein Bild gelesen werden: Holiday Resort, Pistunda, Abkhazia (2010) zeigt den früheren Festsaal der abchasischen Küstenstadt Pitsunda. Der Text dazu vermittelt die Position des Bürgermeisters, der nicht sanieren, sondern alles von Grund auf neu errichten will. Die rechte Aufnahme wurde drei Jahre später gemacht: Unverändert, aber unaufhaltsam wird der langsame Verfall der Architektur fortgeschrieben. Die Methode des Re-visiting entfaltet ohnmächtiges Potenzial: Das Portrait *Ketevan & Dimitri (*Tiflis, Georgien 2007) zeigt drei Jahre später das gleiche ärmliche Zimmer noch vollgestopfter, ein zweites Kindchen, der Blick der abchasischen Flüchtlingsmutter abgeklärter. Durch Produktion von Wissen und Wahrheit ist die dokumentarische Form ein potentes Werkzeug. Das Kameraauge wurde Komplize verschiedenster Lebenswirklichkeiten, die im Projekt wertfrei nebeneinander stehen: Das Doppelportrait Familie Aschuba, Kodori, Abchasia (2009) zeigt die beiden Buben Zashrikwa (17) und Edrese (14), die sich mit ihren Kalaschnikovs entspannt auf einem armseligen Sofa sitzend inszenieren. Unweit davon hängt ein Portrait von Hamzad Ivloev (44), der sich auf eine Bombe warf und als Sicherheitsbeamter sein Leben riskierte, beide Beine, einen Arm und ein Auge verlor, um seine Kollegen zu schützen. Die liefen jedoch nach dem Anschlag zu den Terroristen über. Das Foto zeigt den Vater, der im verbliebenen Arm seine Tochter hält. Diese dokumentarische Form des Verschränkens von Text und Bild transportiert ein gigantisches emotionales Potenzial, das unter die Haut geht.
Hornstra und van Bruggen bedienen sich verschiedener Dokumentarismen. Das pixelige Footage eines Bombenanschlags auf einen Liquor Store (der innerhalb von zwei Jahren nun zum fünften Mal in die Luft gejagt wurde) legt durch seine Unschärfe Zeugnis von Unmittelbarkeit und Teilhabe am Geschehen ab. In Naltschik, Kabardino-Balkarien(2012) hat der Fotograf vier Fotos des von Sicherheitsleuten bis in den Tod gefolterten Aslan Emkuzhev abgelichtet. Diese Aufnahmen führten dazu, dass die beiden ein weiteres Mal von der Polizei verhört sowie einige Tage in einen Kellerraum gesperrt wurden, um schließlich mit einem fünf Jahre dauernden Einreiseverbot belegt zu werden. Somit endete das Projekt vorläufig 2013.
—
Ausstellung
Rob Hornstra
The Sochi Project: An Atlas of War and Tourism in the Caucasus
Jänner–22. März 2014
Fotohof Salzburg
Margit Neuhold