» Texte / Es ist nie zu spät für eine schöne Vergangenheit – Zur neuen Dauerausstellung des Wien Museums

Friedrich Hauer

ist Stadtforscher und Umwelthistoriker in Wien.


        Das Wien Museum, vormals Historisches Museum der Stadt Wien, hat im Dezember 2023 nach knapp vier Jahren Umbau sein erneuertes und wesentlich erweitertes Gebäude am Wiener Karlsplatz eröffnet (Architektur: Certov, Winkler und Ruck). Da für Sonderausstellungen nun ein eigenes, dem 1959 eröffneten Haerdtl-Bau aufgesetztes Geschoß zur Verfügung steht, konnte die Dauerausstellung vollkommen neu konzipiert werden. Sie trägt den Titel Wien. Meine Geschichte und ist mit 3.300 m2 im Vergleich zum alten Museum um ca. 1.300 m2 gewachsen. Was vielleicht wichtiger ist: Das 20. Jahrhundert wird erstmals groß präsentiert und die Erzählung von Wiens Vergangenheit bis in die Gegenwart geführt. Mit insgesamt etwa 1.700 Objekten, zahlreichen Medien- und Hands-on-Stationen zum Mitmachen wurde einiger Aufwand getrieben, die neue Schau zur Attraktion zu machen.
        Über drei Stockwerke wird die Geschichte der Stadt als chronologisch aufgebauter Rundgang erlebbar; die große Halle bildet dabei gewissermaßen das Zentrum. Hier können Besucher:innen ausruhen und die ikonischen Großobjekte der Sammlung betrachten, wie ein fünfeinhalb Meter hohes Stephansdom-Modell (19. Jh.), das Waldheim Holzpferd des Republikanischen Clubs Neues Österreich (1986) oder den Praterwal Poldi (1951). Die Dauerausstellung gliedert sich in 13 Kapitel, die jeweils unaufdringliche Vertiefungsmöglichkeiten bieten und so unterschiedliche Rezeptionstiefen bzw. Geschwindigkeiten erlauben: Ausgehend vom Naturraum und der frühen Siedlungsgeschichte gelangt man über das römische Vindobona, das Mittelalter und die Renaissance in die Residenz und Festungsstadt der Frühen Neuzeit. Als Geschichte in Arbeit nimmt das Kapitel zur Zweiten Osmanischen Belagerung (1683) eine Sonderstellung ein, denn hier wird exemplarisch die Überlieferung wichtiger historischer Ereignisse als gleichermaßen politisches wie unabgeschlossenes Unterfangen thematisiert. Weiter geht es material- und detailreich über Barock, Aufklärung und das Biedermeier zu den großen Ambitionen der Ringstraßenzeit und in die unvermeidliche »Schönheit am Abgrund« des Wiener Fin de Siécle. Darauf folgen einige (leider etwas knapp geratene) völlig neu konzipierte Kapitel, die sich der »Utopie im Alltag« des Roten Wien der Zwischenkriegszeit, dem Nationalsozialismus als »Labor der Unmenschlichkeit« und dem Nachkriegswien »vom Wiederaufbau bis zur Ostöffnung« widmen. Bewusst vielstimmig und flexibel konzipiert ist die Coda der Dauerausstellung mit dem Titel Eine wachsende Stadt. Geschichten der Gegenwart, was den Ausklang des Rundgangs etwas eklektisch macht und nicht nur formal stellenweise an die aktuelle PR der Stadtregierung erinnert. (Anm.: Als Begleitpublikation zu diesem Teil der Ausstellung ist Momentaufnahme Wien. 130 Stimmen zur Stadt der Gegenwart erschienen, das Interviews mit 130 Stadtbewohner:innen und Expert:innen versammelt. Sie porträtieren aus vielfältigen Perspektiven die Veränderungen und Entwicklungen der Stadt seit 1989.).
        Positiv hervorzuheben ist aus einer urbanistischen Perspektive, dass sozialräumliche Fragen, Migration und Ungleichheit, Austauschbeziehungen zwischen Stadt und Umland oder die Produktions- und Benutzungsbedingungen von urbanem Raum konsequent reflektiert und erzählt werden. Zahlreiche Karten, Infografiken und räumliche Darstellungen sorgen für Kontext und Vergleichbarkeit über Wien hinaus. Die Entwicklung von Städtebau, Architektur und Design ist über weite Strecken gut und aufwändig vermittelt. Neben einigen berühmten historischen Kartenwerken und Veduten sind die Highlights hier vor allem Stadtmodelle (von der Landschaftsgenese über das mittelalterliche Wien und das Ringstraßenprojekt bis zur nie realisierten Wiental-Schnellstraße), Architekturmodelle (vom Stephansdom bis zum Karl-Marx-Hof) und die teils original ausgestatteten 1:1-Innenräume (von einem Empire-Salon über Franz Grillparzers WG-Zimmer bis zum Wohnzimmer von Adolf Loos). Als wäre das alles noch nicht genug des Interessanten und Schönen, kommt noch die Sammlung bildender Kunst hinzu, die auch im internationalen Vergleich als hochkarätig und umfangreich gelten kann. Arbeiten von Hans Makart, Richard Gerstl, Gustav Klimt, Egon Schiele, Carl Moll, Oskar Kokoschka etc., aber auch Werke der Wiener Kinetistinnen My (Marianne) Ullmann und Erika Giovanna Klien oder die Marmorskulptur Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht der Bildhauerin Teresa Feodorowna Ries würden je für sich einen Besuch des Wien Museums lohnen.
        Dass man bei Konzeption und Gestaltung der Dauerausstellung dermaßen aus dem Vollen schöpfen konnte, hat allerdings nicht nur Vorteile, denn streckenweise wirkt die Schau etwas überfrachtet und manchem Objekt (insbesondere manchem Gemälde) hätte man mehr Raum gewünscht, um seine Wirkung entfalten zu können. Hinzu kommt ein ausgeprägter Hang zur Didaktik. Ich, Du, Wir, Wien: Alle müssen anscheinend stets dort abgeholt werden, wo sie sind oder die Ausstellungsgestalter:innen sie vermuten. Historische Themenstränge mit Aspekten unserer gegenwärtigen Lebenswelt in Beziehung zu setzen ist einerseits sicher niederschwellig und volksnah, andererseits braucht es Platz und birgt unweigerlich die Gefahr des Anachronismus (etwa wenn umstandslos mit modernen Kategorien wie »Arbeit«, »Demokratie« oder »Umwelt« operiert wird, die es in der Vergangenheit so vielleicht gar nicht gab).
        Aus gesellschaftskritischer Sicht ist positiv hervorzuheben, dass sich die Gestalter:innen insbesondere im Abschnitt zu Barock und Aufklärung bemüht haben, die Dialektik von Freiheit und Ordnung, Toleranz und Kontrolle zu thematisieren – eine Dialektik, die die modernen Staaten und ihre Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert prägt. Manche Stationen bieten dazu interessantes Anschauungsmaterial, etwa zur archäologischen Erforschung der geschundenen Körper der Soldaten von 1809, zum subversiven Biedermeiertheater oder zur 1938 von breiten Bevölkerungskreisen ins Werk gesetzten Verfolgung und Beraubung der Wiener Jüdinnen und Juden. Angesichts dieser Ansätze ist es schade, dass die Janusköpfigkeit der Moderne nicht konsequenter herausgearbeitet wurde – Gelegenheit dazu hätte es reichlich gegeben, etwa in Bezug auf die »Fürsorgeeinrichtungen« der Frühmoderne (z. B. Armen- oder Krankenhäuser), die Kontextualisierung der Ringstraße als nicht zuletzt militärische Planung zur Aufstandsbekämpfung oder den Paternalismus und Arbeitskult des Roten Wien. Da hätte man sich an den im Biedermeierkapitel zitierten Johann Nestroy erinnern können: »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.« Wie groß er in welchem Bereich der Wiener Stadtgeschichte (und in der neuen Dauerausstellung) nun tatsächlich war oder ist, und was das bedeutet – davon möge sich jede und jeder selbst ein differenziertes Bild machen. Material dazu ist am Wiener Karlsplatz reichlich vorhanden. Ein Fortschritt steht allerdings außer Zweifel: dass die Stadt Wien bzw. das Wien Museum die ambitionierte neue Dauerausstellung als erstes öffentliches Museum Österreichs kostenlos zugänglich gemacht hat. Möge sie zahlreiche und wiederkehrende Besucher:innen finden!


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