Christian Egger


Dieses Buch versammelt unter anderem die penible, künstlerische, idiosynkratische und langjährige Recherche des Schweizer Künstlers Yves Mettler, der anhand des, nur auf den ersten Blick banalen Phänomens ›Europaplatz‹ wesentliche Fragen nach der Identität und Zukunft Europas stellt. Nachdem er im Zuge eines Österreichaufenthalts 2003 in Graz im Bahnhofsbereich über einen solchen spazierte, begegnete er immer weiteren, begann sich bewusst dafür zu interessieren, begab sich – wenn man so will – auf einen langen, auf Europaplätze beschränkten dérive und machte sich auf zur Katalogisierung bzw. der Suche nach Ursprung und Sinn hinter diesem Phänomen und der für dieses Projekt wesentlichen Frage: »Ob an diesen Plätzen, die Europa im Namen tragen, etwas über Europa herauszufinden wäre und, wenn ja: was?«.
        In der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Realisierungen und Ausformungen der Platzgestaltungen vor dem Hintergrund rapider Privatisierung und Kommerzialisierung allerorts, beschäftigen ihn auch weiterführend Fragen der Repräsentation und Ideologie, denn für den Künstler repräsentieren »… Europaplätze nicht Europa, sie sind Teil von Europas Wirkungen auf bestimmte Orte, und die Lage dieser Orte wird nicht durch Europas Grenze definiert – sie sind Ruf und Echo zugleich.«
        Diese graphisch in auffälligem Rot, Gelb und Blau gehaltene und im britischen Philosophierverlag Urbanomic erschienene Europaplatz-Kartographie verdeutlicht auch, wie sich die Zugänge des Künstlers zum Themenkomplex über die Jahre veränderten, Perspektivenwechsel auf das eigene Mammutprojekt weckte und die Wahl seiner künstlerischen Mittel beeinflusste, welche wiederum selbst dabei die unterschiedlichsten Medien und Materialien nutzen und Formen annehmen können. Neben einem präzisen Überblick über Ausstellungsprojekte dazu, in denen unter anderem mehrere Geschichten unterschiedlicher Europaplätze an Orten außerhalb ihres regionalen Kontexts (Place de L’Europe (Berlin – Bruxelles – Lille – Calais), 2008) verknüpft wurden, oder einer Intervention (2005), welche die Entstehung eines Europlatzes im Schweizerischen und dafür wenig prädestinierten Chur ankündigt, oder einem Protokoll eines gescheiterten, nichtsdestotrotz lehrreichen partizipativen Projekts am Rande von Paris, in Bancbigny (2013), gibt der Atlas Europe Square ebenfalls Entwicklung und Übersetzung des Themas in dialogische Hörspiele, personalisierte und animierte, zum Sprechen gebrachte Europaplatzvideos, installative Ausstellungssettings, Postkarten, amüsante Fiktionalisierungen etc. wieder.
        Dabei erschließt und öffnet sich Mettlers beharrliches investigatives Bemühen zwischen informativer Unterhaltung, existenzieller philosophischer Befragungen und sozialer Plastik, für alle, die schon einmal der Thematik gegenüber unbekümmert einen Europaplatz querten, auch indem er ausführlich Reaktionen von Projekt-Beteiligten, Anrainer*innen, Soziolog*innen etc., Projektverläufe insgesamt transparent einfließen lässt. Ein multiperspektivisches Vorgehen, welches auch in dem gemeinsamen Forschungsprojekt Am Rand von EuropaCity (2018–2019) mit dem Verleger Achim Lengerer, dem Soundkünstler Gilles Aubry und der Kuratorin Alexis Hyman Wollf wirksam wurde und Möglichkeiten kulturellen Lebens und Zusammenwohnens trotz Angrenzung an Berlins innerstädtisches Investitionsprojekt Europacity, abseits von reiner Profitmaximierung und im Austausch mit den Bewohner*innen der bestehenden alten Viertel Moabit und Wedding ergründete.
        Zitate aus New State Spaces: Urban Governance and the Rescaling of Statehood des urbanistischen Theoretikers und Soziologen Neil Brenner, der sehr früh die Bedeutung von Raumtheorie und Städtepolitik in seine Kapitalismus- bzw. Staatsmachtanalyse einführte, durchziehen sorgfältig das Buch, während langjährige Kollaborateur*innen wie die Professorin Teressa Pullano oder der Philosoph und Wissenschaftler Stephen Zepke Mettlers Forschungen im Detail hervorheben und weiter kontextualisieren. Einen provokant beißenden, konterkarierenden Bruch mit den kritischsten, aber eben stets westlichen Einschätzungen und Reflexionen der Europaplatz-Thematik liefert der iranische Philosoph und ebenfalls regelmäßige Projektpartner Mettlers Reza Negastarani, in seinem Beitrag Alone in the Chop Chop Square. Darin stellt er historisch westlich gesicherte Narrative makaber und mehrfach auf den Kopf, wenn er beispielsweise treffend räsoniert, wie der Westen immer den anderen des Barbarentums bezichtigen würde, wenn doch die auf europäischen Plätzen jahrhundertelang praktizierte Tradition von Bücherverbrennungen und öffentlichen Hinrichtungen, gerade sie selbst für dieses Prädikat qualifiziert. Auch dafür ist in Mettlers bemerkenswertem Atlas Europe Square, neben einer indexikalischen Übersichtsaufstellung aller Europaplätze der Welt ›Platz‹.


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