Feldnotizen vom Dorf: über die Begegnung mit der Kunst
Beprechung von »Kunst und Dorf« herausgegeben von Brita Polzer„Die Dorfsirene heult auf, unter Martinshorn und Blaulicht rückt in Rekordzeit die komplette Feuerwehrmannschaft an und sperrt die Kunsthalle großräumig ab. Wer bisher noch nicht vor Ort ist, kommt spätestens jetzt.“ (S. 34), so berichtet Rolf Wicker von den Erlebnissen seines künstlerischen Schaffens in einem norddeutschen Dorf. Es ist ein Beispiel von vielen für Kunstprojekte in ländlichen Räumen, die nun erstmals in einer zusammenfassenden Publikation vorgestellt werden. Die Herausgeberin Brita Polzer, eine schweizerische Kunstkritikerin, hat im Sammelband Kunst und Dorf – Künstlerische Aktivitäten in der Provinz diverse Projekte zeitgenössischer Kunst in Österreich, der Schweiz und Deutschland zusammengetragen. Der Fokus liegt dabei „nicht auf Bildern und Skulpturen, die in einem Atelier in einem Dorf entstanden sind, sondern auf Projekten, die jeweils in und häufig mit einer Gemeinde erarbeitet wurden, wobei die Kunstschaffenden die Dörfer als erweiterte Arbeits- und Handlungsräume nutzen, als Plattformen für vielfältige Interaktionen“. Ziel der Publikation ist es, „die Begegnung von Kunst und Dorf zu fassen“, dem künstlerischen Schaffen dort „Aufmerksamkeit [zu] verschaffen und sie als inspirierende Modelle für weitere Dorfaktivitäten ins Gespräch [zu] bringen“. Die Beiträge stammen aus der Feder von ExpertInnen der Kunstwissenschaft, Geografie, Soziologie oder von JournalistInnen. Zum größten Teil aber wurden sie von denjenigen verfasst, die selbst vor Ort aktiv sind: KünstlerInnen, KuratorInnen, MitarbeiterInnen oder InitiatorInnen bzw. GeldgeberInnen. Diese schildern ihre persönliche Sicht auf die Ereignisse, verfassen so „Feldnotizen“ vom Dorf. Das Buch gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Teil Kunst und Dorf heute werden acht gegenwärtige Projekte in Dörfern detailliert vorgestellt. Einblicke in das Schaffen vor Ort werden anhand von Projektbeschreibungen, Reportagen oder Interviews mit Akteuren und Akteurinnen gegeben. Im zweiten Teil des Buches Kunst und Dorf gestern werden historische Beispiele für die Begegnung von Kunst und Dorf gegeben, wobei MalerInnen in der DDR und Künstlerkolonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen. Das dritte Kapitel Das Dorf: von Autarkie und Klassengesellschaft zu Hüslipest und Raumpionieren beschreibt die Situation von und in Dörfern heute und den Wandel, den viele ländliche Räume in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt haben. Diese Beiträge wurden zum Teil bereits in ähnlicher Weise anderweitig veröffentlicht. Im vierten und letzten Kapitel – einem Anhang gleich – werden schließlich Zwanzig Dorfprojekte aus den deutschsprachigen Ländern plus Ungarn und China auf je einer Doppelseite kurz vorgestellt. Das erste Kapitel kann neben der Einführung der Herausgeberin als das wichtigste gelten. Denn dort werden die relevanten Aspekte zur Verknüpfung von Kunst und Dorf angesprochen. Dadurch, dass ganz unterschiedliche Involvierte zu Wort kommen – ausgenommen die DorfbewohnerInnen selbst – werden die verschiedenen Perspektiven aufgezeigt. Einige Fragen tauchen immer wieder auf, die sich deshalb als besonders relevant herauslesen lassen: Wie gestaltet sich die Begegnung von KünstlerInnen und DorfbewohnerInnen? Macht es einen Unterschied, in der Stadt oder auf dem Dorf künstlerisch tätig zu sein? Was lösen die Kunstprojekte vor Ort aus? Es wird deutlich, dass sich die Herausgeberin für Kunst für Dörfer interessiert, dafür, was die Kunst dem Dorf bringen kann. Die vorgestellten Projekte beschreiben meist eine zielgerichtete Kunst, eine Kunst, um zum Beispiel „Austausch, Gastfreundschaft und Empathie“ in einem Dorf zu erreichen. Die Frage nach der Instrumentalisierung wird im Buch aufgeworfen, aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage der Kunstwissenschaft erfolgt nicht. Verknüpft ist dies mit dem im Buch verwendeten Kunstbegriff, der ebenfalls ungenau bleibt und nicht ausreichend an gegenwärtige Debatten in der Kunstwissenschaft anknüpft. Die Herausgeberin spricht z.B. über „künstlerische Aktivitäten“, „künstlerische Projekte“, “Kunstprojekte“ oder einfach nur „Projekte“. Zieht man Begriffe aus der Kunstwissenschaft heran, so ließen sie sich in den Bereich der partizipativen Kunst (z.B. nach Claire Bishop) einordnen. Bei dem nach einer Gesamtschau klingenden Titel Kunst und Dorf liegt der Fokus auf den Prozessen vor Ort, auf Rahmenbedingungen und organisatorischen Aspekten. Die künstlerischen Werke selbst stehen im Gegensatz dazu eher im Hintergrund. Sie erschließen sich den LeserInnen jedoch sehr gut durch die zahlreichen Farbabbildungen mit treffenden Bildunterschriften. Die Frage nach ihrer künstlerischen Qualität wird im Rahmen der Publikation eher außen vor gelassen. Ob das symptomatisch ist für eine partizipative Kunst, bei der nicht selten der Eindruck entsteht, allein das Einbeziehen Vieler sei schon Qualität genug, wie u.a. Claire Bishop in Artificial Hells (2012) zu bedenken gibt? Es werden vielfältige Projektbeispiele vorgestellt, deren Auswahl jedoch beliebig erscheint, es werden keinerlei Kriterien für die Selektion genannt. Auch eine Begründung, warum der Schwerpunkt der Publikation auf den deutschsprachigen Ländern liegt, wird nicht gegeben. Dies wäre wünschenswert gewesen, denn in anderen europäischen Ländern sind vergleichbare Kunstaktivitäten in ländlichen Räumen ebenfalls zu finden. Kunst und Dorf, die erste Publikation, welche sich überhaupt dezidiert diesem Themenfeld widmet, bietet durch vielfältige Beispiele eine umfangreiche Materialsammlung, die sich sehr gut zur Einführung eignet. Das Buch ist ansprechend gestaltet und nimmt die LeserInnen durch zahlreiche Farbabbildungen mit in die Dörfer. Es werden spannende Reportagen geboten, lebendige Gespräche, detaillierte Beschreibungen – „Feldnotizen“ eben. Das Buch macht neugierig auf das, was vor Ort passiert, und dient als Inspirationsquelle für diejenigen, die Lust haben, eigene Aktivitäten auf dem Land umzusetzen. Viele Aspekte sind aufgeworfen und Fragen gestellt; nun warten sie auf eine tiefer gehende wissenschaftliche Analyse.
Anne Moirier
Theresa Dietl