Filmische Kartografien – Anlässlich der Viennale 2006
Metropolen wie New York, London, Paris, Buenos Aires oder Shanghai ließen sich einer neuen Kartografie unterziehen, wenn es darum ginge, an welchen Orten bereits Filme und Fernsehserien gedreht wurden. In den anlässlich der Viennale 2006 ausgewählten Filmen, die urbanes Lebensgefühl ausstrahlen, wird allerdings keine Standortwerbung betrieben, sondern die Großstadtanonymität lässt Transitzonen sowie Topografien der Erinnerung entstehen.
A propósito de Buenos Aires © S²ArchIn A propósito de Buenos Aires (2006) wird der urbane Raum von Buenos Aires von einem jungen Kollektiv aus elf Regisseuren und Regisseurinnen nach dem Konzept der non-lieux eines Marc Augé durch Transiträume wie Bahnhöfe, Parks, Haltestellen und Bahnhöfe erkundet. Die so erstellte subjektive Kartografie lässt den kinematografischen Blick in leerstehende Wohnungen sowie baufällige Häuser schwei-fen und diagnostiziert Symptome einer Gentrifizierung. Junge Teenager in Schuluniformen simulieren auf einem Friedhof in Karaokemanier einen Tango im Playback. Das Setting erweckt durch literarische Filmallegorien erneut den Mythos eines Buenos Aires als Metropole des Tangos. Die Stadt wird hier zur Handlungsträgerin, wenn auch durch die Kamera konstruiert, die ProtagonistInnen sind zweitrangig.
Im chilenischen Film Rabia (2006) sind es vor allem Gangsituationen und das Warten vor dem Bürogebäude, durch welche Frauen während ihrer Jobsuche aufeinandertreffen. Ihre alltäglichen, beiläufigen Gespräche liefern zunächst eine unspektakuläre Skizze über die ange-spannte wirtschaftliche Situation Chiles. Auf Mini-DV von Oscar Cárdenas Navarro mit einem Team von sechs Personen in nur zwei Tagen gedreht, nimmt das Finale in diesem Low-Budget-Projekt eine unerwartete gewalttätige Wendung. Als die 25-jährige unauffällige Protagonistin des Films Camila während einer Probeanstellung als Sekretärin von ihrem arroganten Arbeitgeber schikaniert und unflätigst gedemütigt wird, rächt sie sich und erschießt ihn während seines Fitnessprogramms im Park. In der filmischen Dramaturgie finden sich semidokumentarische Strukturen durch überlange Kameraeinstellungen, dennoch folgt das Skript nicht dem Kon-zept einer Sozialkritik. Die prekäre Situation in welcher sich die junge Frau Camila befindet, wird so zum Resonanz- und Assoziationsraum für die eigene Lebensrealität und zum Appell, rechtzeitig aus dem Kreislauf der latenten Gewalt auszubrechen. Dem Drill des Konsums von Identitäten und Identitätserweiterungen durch den Kauf von Konsumartikeln, dem Aneignen von Rollenklischees und typischen Verhaltensweisen werden lapidare Erscheinungen des Alltags gegenübergestellt, die außer Kontrolle zu geraten drohen. Einer Globalisierung von Glücksverheißungen tritt die desillusionierende Realität junger Frauen auf Jobsuche gegenüber. Im digitalen Kurzfilm No Day Off (2006) des Regisseurs Eric Khoo wird das Leben der jungen Frau Siti, die in Singapore als Dienstmädchen arbeitet, über einen Zeitraum von vier Jahren gefilmt. Aus der Perspektive von Siti, die mit der Kamera fokussiert wird, nehmen wir ihre wechselnden Arbeitgeber meist bloß als schrilles Stimmengewirr wahr und erfahren, wie drastisch sich die konsumistische Ignoranz auf soziale Strukturen auswirkt.
Auf der Flucht vor ihrer Einsamkeit befindet sich die freiberufliche Journalistin Rei, als sie in einem Tankstellenshop auf den Lastwagenfahrer Okabe trifft. Mit Vibrator (2003) gelang dem japanischen Regisseur Hiroki Ryuichi ein Road Movie, welches eine kreative Aversion gegenüber einer Sehnsucht nach romantischer Liebe transportiert. Großstadtanonymität und Urbanität changieren in diesem Road Movie zwischen unwirklichem sozialem Abseits und faszinierendem Nirgendwo, welche eine Katharsis des Selbst auslösen. Bereits der Medienkritiker Paul Virilio vertrat die These, wonach die Geschwindigkeit unserer Informationsgesellschaft nicht nur neue Theorien des Visuellen bewirkt, sondern auch neue Formen der Subjektivität schafft. Schwankend bewegen sich in Vibrator die ProtagonistInnen über das Hochseil, auf dem Identitäten verhandelt werden. Gegenüber einer schwer fassbaren urbanen Wirklichkeit bildet das Genre des Road Movie eine Möglichkeit, aus der selbst geschaffenen Isolation auszubrechen. Was zunächst als spontane Affäre beginnt, entwickelt sich während der Fahrt mit dem Lastwagen zu einer intensiven sexuellen und emotionalen Begegnung, die sich vor allem in der Fahrerkabine des Lastwagens abspielt. Beinahe wie eine Initiationsreise wirkt jene Szene, in welcher Okabe seiner Begleiterin Rei das Lenkrad des Lastwagens überlässt. Während im Film Alice in den Städten (1973/74) von Wim Wenders die Stadt zum Schauplatz der Identitätsfindung wird, ist es in Vibrator die Fahrerkabine eines Lastwagens, welche den Identitätstransfer bewirkt. Auf der Autobahn wird die urbane Landschaft durch die Windschutzscheibe präsent, zeigt sich der Transitraum in seiner Relation zur Bewegung der Kamerafahrt. Auch für den Theoretiker Gilles Deleuze bildete das Filmbild kein geschlossenes Ganzes, sondern erscheint als eine Anzahl logischer Relationen, die sich in einem permanenten Veränderungszustand befinden. Jenes emotionale Mapping, welches die ProtagonistInnen durch ihre Reise erfahren, findet sein abruptes Ende am Ausgangspunkt ihrer Begegnung – an der Tankstelle.
Im Gegensatz dazu ist das Leben der 17-jährigen Emmanuelle in einem Pariser Vorort von einer lähmenden Orientierungs-losigkeit, deren einzigen Halt die täglichen Bus- und U-Bahn-Fahrten bilden. L’Année suivante von Isabelle Czajka visualisiert die Fahrten durch die urbane Landschaft mittels einer Kameraführung, die sich nicht in das Geschehen involviert, sondern aus der Distanz filmt, wie sich ein junges Mädchen nach dem Tod ihres Vaters und der Entfremdung von der Mutter durch den Alltag navigiert. Wie die im urbanen Umfeld angesiedelten Lesarten von Identitätspolitiken auf differenzierten Annäherungen beharren, gelangt eindrucksvoll im Kurzfilm London Calling (1985) oder im Dokumentarfilm Il Palazzo (2006) zum Ausdruck.
Ursula Maria Probst