Janet Merkel


Wie erforscht man die Willkommenskultur einer Stadt? Was ist das eigentlich und wie erfahren Ankommende eine neue Stadt? Was kennzeichnet Gastfreundschaft, Zugehörigkeit und Bürgerschaft, wann ist man Gast und ab wann eigentlich ein:e Bürger:in, ein Citizen? Wie definiert sich Zugehörigkeit zu einer Stadt, zu einer städtischen Gesellschaft? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Paula Hildebrandts Welcome City.
        In einem ästhetisch-forschenden Prozesses erspürt sie unterschiedliche Wahrnehmungen von »Bürgerschaft, von Identität, und von Zugehörigkeit« und vom Ankommen in einer Stadt, ob als Geflüchtete oder wie die Autorin selbst als zugezogene Pendlerin für eine befristete Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hafencity Universität. Den Forschungskontext bildet die Stadt Hamburg nach der Migrationswelle 2015 und der Willkommenskulturoffensive, die damals synonym für die Aufnahmebereitschaft gegenüber Geflüchteten aus Syrien stand. Als promovierte Stadtsoziologin wechselt Hildebrandt diesmal den Blickwinkel. Hat sie in ihrer Dissertation noch Gruppen in urbanen Kontexten erforscht, die sich künstlerischer Methoden und Praktiken bedienen, um Demokratieerfahrungen hervorzurufen, nutzt sie nun einen künstlerischen Forschungsprozesses, um alltägliche Erfahrungen des Ankommens und der Teilhabe an Stadt wahrnehmbar zu machen und darüber die Ambivalenzen einer Willkommensstadt aufzuzeigen.
        Die insgesamt 19 Erzählungen bzw. Kapitel des Buches beschreiben vielfältige alltägliche Situationen, mit denen Erfahrungen, Praktiken und Wahrnehmungen der Offenheit, Akzeptanz oder Ablehnung und Ausgrenzung für Ankommende in Hamburg erspürt werden. Experimentalanordnungen, Improvisationen, Provokationen und Spekulationen dienen als offene Versuche zur Generierung von alternativen Problembeschreibungen, Sichtweisen und der Erzeugung nicht- diskursiven Wissens, also von Wissen, das nicht mehr oder noch nicht Gegenstand diskursiver Praxis ist. Die Texte sind durchzogen von intimen Selbstreflexionen der Autorin: die Beobachtungen in alltäglichen Situationen werden mit Erinnerungen vermischt oder von bedeutungsvollen Dingen im Leben der Autorin gerahmt und angestoßen. Immer wieder webt sie persönliche Kindheitserinnerungen, Filme, Zitate und liebgewonnene, bedeutungsvolle Objekte in ihre Reflexionen. Manche Kapitel tragen starke autoethnographische Züge wie beispielsweise Der Balkon oder Berzelius, so cold. Diese dokumentieren und reflektieren Gespräche und setzen sie in Bezug zu anderen kulturellen Praktiken oder sozio-kulturellen Zusammenhängen.
        Das Einfließen der subjektiven Perspektive der Autorin ist ein wichtiges methodologisches Prinzip künstlerischer Forschung, ebenso das aktive Einbringen in den Forschungsprozess. Sie organisiert Ankommende – darunter viele Geflüchtete – in einem Netzwerk der Welcome City Group. Gemeinsam erfahren und erkunden sie die Stadt, suchen alltägliche und weniger alltägliche Orte auf, um sich Hamburg allmählich anzueignen und darüber zur Teilhabe an der Stadt zu ermächtigen. So wird gemeinsam die Lange Nacht der Wissenschaften in verschiedenen Hamburger Universitäten besucht, gemeinsam gekocht und gebacken oder als Junggesellinnentour verkleidet eine Nacht auf der Reeperbahn verbracht, die auf dem Polizeirevier endet.
        Bereichert werden diese Erzählungen mit verschiedenen Bildern, Illustrationen und Gedichten, die zu Reflexion oder auch amüsierender Unterhaltung verleiten und zu Fragen provozieren. Das Buch ist kein abgeschlossener Ergebnisbericht eines Forschungsprojekts, sondern versteht sich als Teil eines Forschungsprozesses, der Rezipient:innen ebenfalls aktiv mit einbezieht. Inwiefern dieses Buch bei Lesenden empathische Reaktionen auslöst und dazu motiviert, andere Blickwinkel einzunehmen, sich also auf dieses nicht-diskursive Wissen einzulassen und Bedeutungen in Auseinandersetzung mit dem Text zu ko-konstruieren, muss jede:r Lesende für sich selbst entscheiden. Es ist nicht der Anspruch künstlerischer Forschung, objektives Wissen zu präsentieren, das kontextunabhängig in Analysen nutzbar gemacht werden kann. Vielmehr geht es gerade darum, kontextabhängiges Wissen zu heben, das Wissen alltäglicher Situationen erfahrbar zu machen und eher neue Sichtweisen und Problemlösungen zu erstellen und im Forschungsprozess sowohl die Forschungssubjekte als auch das Publikum miteinzubeziehen.
        Künstlerische Forschungsansätze finden in der Stadtforschung immer häufiger Anwendung und werden zunehmend stärker reflektiert (vgl. zum Beispiel dérive, Ausgabe April 2021). Hildebrandt bietet jedoch weder eine Einordnung ihres Vorgehens an noch erklärt sie ihren Forschungsansatz, vielmehr müssen diese im Lesen erschlossen werden – die alternative Konzeption von Wissen, Erkenntnis und auch Wissenschaft, die starke subjektive Perspektive, das partizipative Element und schließlich auch der aktivistische Anspruch des Forschungsprozesses. Konsequenterweise werden auch keine Literaturverweise im Text gesetzt, wie in wissenschaftlichen Publikationen üblich, sondern der Anhang bietet eine zweiseitige Literaturübersicht mit den wichtigsten Texten, die in die Bearbeitung des Projektes eingeflossen sind. Auch hier bleibt es den Leser:innen überlassen, auszusuchen, welche zentrale Autor:innen und Texte für die Reflexion des Forschungsprozesses von besonderer Bedeutung waren.
        Paula Hildebrandt legt mit ihrem Buch Texte vor, die dazu einladen, andere Perspektiven einzunehmen und Wahrnehmungen zu erkunden. Sie regt an, Konzepte wie Citizenship, Bürgerschaft, Zugehörigkeit und auch die eigene wissenschaftliche Praxis und die Vermittlung von Forschungsergebnissen kritisch zu hinterfragen. Stadtforscher:innen, die sich eher im klassischen Methodenkanon qualitativer Sozialforschung bewegen, verlangt das Buch zunächst viel Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen ab, weil es nicht nur eingeübte Lesegewohnheiten herausfordert, sondern auch Erfahrungen, Praktiken und Wahrnehmungen zugänglich macht, die in Forschungsberichten zu und über Städte oft fehlen. Hier geht es analytisch nicht um die Bedeutung von vermittelnden Infrastrukturen, Ressourcenzugängen oder Politiken wie in vielen Forschungsprojekten zu städtischer Migration, sondern um alltägliche Erfahrungen des Ankommens und Einpassens, um affektive und performative Formen des Dazugehörens, mitunter den Geist im Keks.
        Beim Lesen musste ich oft an das 2022 erschienene Buch Fragments of the City des britischen Geographen Colin McFarlane denken. Darin nutzt er das Fragment als Form (Bruchstücke, unvollendete Materialitäten, Wissen und Ausdrucksformen) und Idee (das Städtische als unvollständig, multipel und sich immerwährend Formierendes durch das Zusammengehen und Auseinanderfallen von Dingen und Prozessen), um städtische Ungleichheits- und Wandlungsprozesse zu erforschen. Für McFarlane beschreiben Fragmente dabei nicht nur materielle Dinge oder Infrastrukturen, die kaputt, ungenutzt oder unterbrochen sind, sondern dies können auch Wissensbestände und Praktiken sein. Die Ankommenden in Welcome City erfahren ihr bisheriges Wissen und Praktiken als gebrochen oder zerrissen und müssen sich nun in den Bruchstücken einer neuen Stadt – z. B. in den alten Flughäfen oder den temporären Architekturen, die für Geflüchtete bereitgestellt werden – zurechtfinden. Die Fragmente können aber auch zu Ressourcen und Möglichkeiten werden, indem sie immer wieder neu miteinander in Beziehung gesetzt werden, wie in der Welcome City Group. Sichtbar werden darüber multiple Geographien einer Willkommensstadt, die nebeneinander existieren können und durch die An- und Abwesenheit von Wissen, Praktiken und Materialitäten geformt werden.


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