Fragmente städtischen Alltags
Besprechung von »Fragmente städtischen Alltags: Widersprüche« herausgegeben vom Sozialistischen BüroSozialistisches Büro (Hrsg.)
Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.
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Heft 78 der Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.
Die Widersprüche wurden anfang der 80er-Jahre gegründet und versuchen seitdem, den konservativen Tendenzen, die sich seit damals potenziert haben, mit der Entwicklung einer alternativen Sozialpolitik entgegenzutreten. Die Themen der letzten Hefte reichen dabei von der Ablöse der Politik durch das Management und von oben verordneter Zivilgesellschaft bis zur neuen Lerngesellschaft und der drohenden Biologisierung des Sozialen. Betreffen die Themen also eher allgemein politische Fragen, dann ist das letzte Heft eine Ausnahme, hier stehen stadträumliche Fragen im Vordergrund, genauer: die Transformation des städtischen Alltags und die damit verbundenen veränderten Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, die vor allem um eine neue Form der Subjektivität zentriert sind – die hinterfragt werden muss, da sie nunmehr weniger als Subversion denn als Konformismus erscheint (Stichwort: Zivilgesellschaft). Das Heft wurde diesmal in Kooperation mit der Gruppe spacelab erstellt, die sich schon seit längerem mit Stadtforschung beschäftigt: Ellen Bareis, Stephan Lanz, Walther Jahn, Klaus Ronneberger; ein Interview mit Klaus Ronneberger findet sich in dérive nr. 1, ebenso eine Besprechung ihres 1999 erschienen Buches Die Stadt als Beute.
In der Einleitung zum Schwerpunktthema (daneben gibt es noch ein Forum für heftübergreifende Diskussionen und einen Magazinteil mit Buchbesprechungen und diversen aktuellen Themen) wird Henri Lefébvres Kritik des Alltagslebens als Ausgangspunkt genommen und die Frage aufgeworfen, inwieweit sie auf die veränderte Situation des postfordistischen Alltags noch anwendbar ist. Lefébvre ortet in der Alltagswelt neben systemerhaltenden Komponenten auch Spielräume, in denen die Individuen Autonomie und Kreativität entfalten können; diese Spielräume gelangen allerdings zusehends unter die Kontrolle der neuen flexiblen Arbeitswelt, die die Grenzen zwischen Arbeit und Alltag vermischt, wie auch jene zwischen UnternehmerInnen und ArbeiterInnen – der neue Typus der »ArbeitskraftunternehmerInnen« ist im Entstehen begriffen. Mit der Zunahme an Selbstbestimmung erfüllen sich scheinbar die Forderungen, die die Linke an den Fordismus gerichtet hat, die ehemals gerechtfertigte Kritik geht in der gegenwärtigen Systemlogik auf. Die im Heft vorgestellten Studien versuchen, die städtebaulichen Auswirkungen dieses Wandels an konkreten Beispielen fest zu machen:
Eine Studie stellt eine neue Form des Wohnens (bzw. Arbeitens) vor: das Boardinghaus, bspw. realisiert in der Neuen Mitte von Berlin; ein Wohnkonzept, das nicht ganz neu ist - in Nordamerika gibt es seit dem 19. Jahrhundert Boardinghäuser -, das nun aber zur Reife gelangt ist. Im Unterschied zum Hotel bietet es kein Leben à la Boheme, sondern ein »echtes Zuhause«, unter Reproduktion aller gewohnten geschlechtsspezifischen Muster. In erster Linie ist es die Wohnform für gestresste (männliche) Manager, die von meist weiblichem Personal umsorgt werden – als Ehefrauen-Ersatz. Das Wohnen steht nicht mehr im Kontrast zur Arbeitswelt, es stellt sie nicht in Frage und bietet keine Gegenwelt mehr an, sondern funktioniert als perfekte Unterstützung. Dazu angehalten, die Persönlichkeiten der zahlenden Gäste ernst zu nehmen, ermöglicht das Personal die Selbstpräsentation und fördert die Produktion von Subjektivität ... und damit auch die Produktivität im Beruf. Man hat also erkannt, dass nicht nur Outsourcing zielführend sein kann, sondern auch das Gegenteil – die AutorInnen sprechen daher vom Insourcing des Zuhause.
Eine andere Studie hat eine Interviewserie mit ehemals Alternativen durchgeführt, die »zum Wohle der Kinder« an den Stadtrand gezogen sind. Was dabei interessant ist, ist inwieweit es möglich ist, bestehende »objektive« Strukturen zu beeinflussen, wenn man entsprechend andere Lebensvorstellungen mitbringt; oder inwieweit man selbst von eben diesen Strukturen beeinflusst wird. Herausgekommen ist dabei, dass die Einrichtung alternativer Enklaven (z. B. spezieller Kindergärten, Gruppen von Gleichgesinnten usw.) zwar möglich ist, aber eher in geringem Ausmaß – am Ende wird doch »die räumliche Falle« von Suburbia spürbar: alle Wege sind nur mit dem Auto zu bewältigen, das meist nach wie vor in der Hand des Familienoberhaupts ist ... der Rest der Familie sitzt an der Peripherie fest.
Weiters wird unter dem Titel Der Staat verordnet die Zivilgesellschaft die deutsche Bund-Länder-Gemeinschaftsinitiative Programm Soziale Stadt unter die Lupe genommen. Das Ziel dieser Initiative ist, der Segregation der Städte, der Gettobildung, entgegenzuwirken und die soziale Durchmischung zu fördern. Was positiv klingt - schließlich entspricht dies genau dem Bild, das man von »Stadt« hat-, ist dies nur zum Teil: die Gettovisionen sind eher fragwürdig, da sie in Deutschland kaum in größerem Ausmaß realistisch sind und mehr der Zeichnung eines Schreckensszenarios dienen, mit dem sich umso gezielter wieder eine »sichere« Stadt herstellen lässt. Fragwürdig sind auch die Mittel zur Durchmischung: die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, die das Image großer Wohnsiedlungen verbessern soll, führt meist - wie das ja auch in Österreich die nähere Zukunft bringen wird - zum gänzlichen Aufgeben der Verpflichtung der Wohnbaugenossenschaften zur »Gemeinnützigkeit« und zur Liberalisierung des Wohnungsmarkts. Die Aktionen des Programms müssen freilich differenziert betrachtet werden, einer Stärkung von Vereinen auf Grätzlebene - allgemein der Eigeninitiative - kann nichts Negatives nachgesagt werden - allerdings nur dann nicht, wenn gleichzeitig darüber nicht der Blick für das Ganze verloren geht und das Betonen der Differenzen nicht zu einer Fixierung von Ungleichheiten führt.
Neben der persönlichen Beschreibung von Ausschlussmechanismen (Kanak-Rave auf dem Balkon) wird auch ein internationales Forschungsprojekt zum Thema »soziale Ausschließung und Bewältigung« vorgestellt, am Beispiel zweier Frankfurter Stadtviertel. Dabei wird der Zusammenhang von städtebaulicher Infrastruktur und Möglichkeiten der Integration untersucht, im Vergleich eines typischen aufstrebenden Altbauviertels und eines Neubaugebiets am Stadtrand. Was sich bei der Studie herausstellt, ist, dass räumliche Differenziertheit nicht notwendig soziale Unterschiede aufnehmen kann und dass weiters die Integrationsarbeit nicht allein der nachbarschaftlichen Initiative überlassen werden kann, sondern dass diese der Unterstützung von öffentlicher Seite her bedarf. In Hinblick auf private und öffentliche Initiativen, die mehr und mehr in public private partnership funktionieren, wird auch den Entwicklungen in der neuen Hauptstadt nachgegangen; verglichen wird dabei die Neue Mitte von Berlin mit der neuen Hellen Mitte von Hellersdorf, eine der größten Plattenbausiedlungen am Rand von Berlin ...
Die Fülle von Studien, die alle im Zwischenbereich räumlicher und rechtlicher Strukturen angesiedelt sind und auch untersuchen, welche Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen stattfinden, zeigen Einfluss und Ohnmacht der StadtplanerInnen und führen vor, wie »linke Raum-Diskurse« aussehen könnten ... und bieten damit ein Gegenbild zum letzten Artikel, der unter dem Titel Gewalt und Geborgenheit – Rechte »Raum«-Diskurse suggeriert, dass »Raum-Denken« notwendig zu einem mythischen »Raunen vom Raum« führt. Bleibt nur mehr, Foucault zu zitieren: Es ist merkwürdig, wie lange die Problematik des Raums gebraucht hat, als historisch-politische Fragestellung ernst genommen zu werden [...]. Ich weiß noch, wie mir vor zehn Jahren, als ich einmal zu Fragen einer Politik des Raums Stellung genommen habe, entgegengehalten wurde, dass diese Art, auf Fragen des Raums zu insistieren, reaktionär sei, dass die wirklichen Fragen des Lebens und des Fortschritts Fragen der Zeit, mithin von Projekten seien [...], (zitiert nach: Daniel Defert, Foucault, der Raum und die Architekten, in: Das Buch zur documenta X = politics-poetics. Ostfildern 1997)
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Christa Kamleithner