Fremd, 60 Jahre später
Besprechung von »Chandigarh Redux. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry« herausgegeben von Martin und Werner Feiersinger»Der Begriff Redux (engl. wiederbelebt) bezeichnet die Neufassung eines Musikalbums (…) oder eines Films (…), bei der nicht verwendetes Material berücksichtigt wird«, lehrt Wikipedia. Wiederbelebt bzw. ergänzt wird vom Künstler und Fotografen Werner Feiersinger, so lehrt ihrerseits die Rückseite des Buches, eine vor rund 60 Jahren entstandene Fotostrecke des Schweizers Ernst Scheidegger, der die als neue Kapitale der indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana gegründete, nach dem Unfalltod des Generalplaners Maciej Nowicki ab 1950 maßgeblich von Le Corbusier geplante Stadt Chandigarh in den frühen Jahren ihres Bestandes dokumentiert hat. Ein Vergleich lässt sich dabei naturgemäß nur ziehen, wenn man Scheideggers Bilder kennt.
Das Chandigarh von heute, einst für 500.000 Menschen geplant, heute von gut einer Million bewohnt, zeigt jedenfalls alle Spuren seiner jungen Geschichte, wirkt teils gut in Schuss, teils verrottet. Vor allem lehrt das Buch mit seinen rund 300 nach Funktionssektoren sortierten Ansichten des Stadtraums und seiner Gebäude: Sicht-beton altert schlecht, zumindest in tropischen Gegenden. Dunkle Regenwasser-Schlieren, Abplatzungen und Ausblühungen bringen die City Beautiful schnell auf Alltagsniveau. Eine gewisse Melancholie schwebt dabei über dem gesamten Buch, die nicht nur dem oft bedeckten Himmel und den spärlich verteilten Menschen (wo nur hält sich die Million Einwohner und Einwohnerinnen auf?) geschuldet ist, sondern auch der fast rührenden Kombination aus der gemäß der Charta von Athen geplanten Idealstadt-Konzeption Le Corbusiers und seiner Kollegen und den ständigen Anpassungen an die Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwart.
Wertfrei zeigen Werner Feiersingers lakonische, gern in leichter Schrägsicht auf-genommene hochformatige Bilder auch, wie Anspruch, Planung und Nutzung in der in unübersichtliche Sektoren und Quartiere aufgeteilten Stadt nicht recht zusammenpassen wollen – wie bei einem Kleidungsstück, das einmal da ist und in das man sich wohl oder übel hineinzwängt. Nutzungen scheinen sich teils parallel zur Stadt zu entwickeln, manche Bauten, etwa die großen Kinopaläste, leerzustehen, während sich das Leben außerhalb der fremd und ratlos daneben stehenden Gebäude abspielt.
Abgestellte Fahrräder und weiße Autos bevölkern die Asphaltflächen, Menschen sind nur als Staffagefiguren zu sehen, fast nur Männer (oft in jenen Pullovern und Windjacken, die ihnen das Klischee zuordnet), besonders auffallend auf dem Campus der Panjab University – auch hier konfrontiert das gegenwärtige Leben die corbusianischen Utopien mit den realen Missständen der indischen Gesellschaft. Fast britisch geben sich mit ihren Ziegelmauern hingegen die herausgeputzten Reihenhäuser der besseren Wohnquartiere. Eines der rührendsten Bilder des Bandes zeigt keine Architektur, sondern eine Flotte von käferartigen bunten Tretbooten, in denen Paare und
Kleingruppen kreuz und quer auf einem See unterwegs sind.
Das Buch entspringt einer Initiative der aus der Kunst bzw. Architektur kommenden Brüder Werner und Martin Feiersinger, die kürzlich auch den zweiten Band ihres »Italomodern«-Projektes zur Architektur der 1960er Jahre in Oberitalien publiziert haben. Für das Chandi-garh-Projekt wurde vor Ort gemeinsam mit den Wiener Architekten und Corbu-sier-Experten Erich Hubmann und Andreas Vass recherchiert. Der englischsprachige Essay von Andreas Vass, der den Bildteil ergänzt, verbindet Analysen des urbanistischen Systems von Chandigarh mit Eindrücken aus einer fremden Stadt, die sich wohl auch selbst fremd ist.
Iris Meder