Ganz Wien
Besprechung der Ausstellung »Wien von oben – die Stadt auf einen Blick« im Wien Museum Karlsplatz, kuratiert von Sándor Békési und Elke DopplerWer in dieser Ausstellung primär Luftbilder und Grundrisspläne erwartet, wird bereits durch das erste Ausstellungsstück eines Besseren belehrt. Die Fotografie Blick vom Hochhaus in der Herrengasse offenbart sogleich den Versuch der KuratorInnen Elke Doppler und Sándor Békési, vielmehr auf Blickachsen und die historischen Beweg- und Hintergründe des Kartographierens und Abbildens einzugehen.
Das wird zu Beginn der Ausstellung nochmals durch die Frage verdeutlicht, wie wir Wien als Ganzes fassen können? Mit dieser schwingen gleichsam zwei weitere mit: Wollen wir Wien überhaupt als ein Ganzes fassen und wenn ja, was ist ganz Wien? Als Grundlage für eine Beantwortung werden Exponate aus einer geraumen Zeitspanne – vom 15. Jahrhundert bis heute – herangezogen.
Bewusst wird im Sinne von vier Themenschwerpunkten auf eine chronologische Ordnung verzichtet. Die Trennlinie zwischen diesen Bereichen verschwimmt dabei mehrmals. Selbst die KuratorInnen weisen darauf hin, dass die meisten der gezeigten Objekte einer Mehrzahl der Themengebiete zugeordnet werden können. Eine Entscheidung, die es vermutlich erleichtern wird, Wienals Ganzes zu fassen.
Die vier Schwerpunkte lauten wie folgt: Vermessen und Darstellen, Repräsentieren und Idealisieren, Beherrschen und Ordnen sowie Emanzipieren und Experimentieren. Diese Themen wiederum sind in Unterkapiteln strukturiert und folgen dann doch einer meist chronologischen Anordnung. Vermessen und Darstellen beleuchtet die ursprünglichen Aufgaben der Karte und befasst sich mit dem Überblicken, der Abgrenzung – unter anderem mit Margherita Spiluttinis Beitrag Die Grenzen Wiens und einem Zonenplan des Einsatzgebietes der Wiener Feuerwehr um 1860 – der Reduzierung und dem Gestalten.
Der zweite Abschnitt Repräsentieren und Idealisieren untersucht die Funktionen der Symbolik und Identitätsstiftung, wie neutral kann eine Karte sein? Wie viel verfälschende Idealisierung wirkt ein? Fragen, die die gesamte Ausstellung hindurch präsent sind und wohl auch die kartographische Darstellung für immer begleiten werden. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in einem Bildpaar von Anton Hlavacek im Auftrag von Kronprinz Rudolf, das in einem der beiden Spezialbereiche Leopolds- und Kahlenberg zu finden ist.
Nikolaus Gansterers the memory map ist ein erster Beitrag, der einen anderen Blick auf das Medium Karte wirft, ja vielmehr versucht Stadt als einen, von individuellem und kollektivem Gedächtnis erzeugten Raum zu betrachten. Der Begriff memory map wird gleich ein zweites Mal verwendet, wenn Ashraf Ibrahim die Liebe und Abhängigkeit der EuropäerInnen zu dem klar strukturierten Medium Stadtplan in seiner Arbeit verdeutlicht.
Im Bereich Beherrschen und Ordnen tauchen wir in eine Fülle von historischen Darstellungen ein. Dass auch diese Potenzial haben Neues zu zeigen beweist ein Kriegsbericht als Rundpanorama. Spätestens beim Punkt Planen böte sich allerdings die Verwendung von Material aus der Gegenwart und aktuellen Visionen für Wien an. Eine Gegenüberstellung und Beleuchtung der Position des offiziellen Wiens von heute, wie es sich darstellt, wie es (Zukunfts)Planung visualisiert und verkauft, auf welche Thematiken es vergisst und welche wiederum im Fokus liegen, würde sich an dieser Stelle anbieten.
Am deutlichsten wird der historische Überhang im vierten Abschnitt aufgebrochen. Eine Auswahl an künstlerischen Zugängen wie individuelle Mappings oder urbane Piktogramme geben Einblick in alternative Darstellungs- und Wahrnehmungsformen. Auch die Karte als Mittel des Protests und die Veränderungen durch technische Weiterentwicklung sind Teil dieses Kapitels.
Die im abschließenden Raum gezeigten Arbeiten werden mit einem Zitat des Stadttheoretikers Kevin Lynch thematisch eingeleitet. Sein Gedanke: »… we must consider not just the city as a thing itself, but the city being perceived by its inhabitants«, findet direkte Anwendung in den Arbeiten von Studierenden der Akademie der bildenden Künste Wien. Anhand von Interviews mit Wiener SchülerInnen entstanden Vorstellungsbilder aus der Peripherie.
Klassisch und reduziert gibt sich die Ausstellungsarchitektur, die Verwendung des Rasters als Gestaltungselement ist funktional ordnend, die Präsentation der Arbeiten beschränkt sich meist auf die vertikale Wand.
Ergänzend zur Ausstellung gibt es einen umfangreichen Katalog, erschienen als Hardcover im Metroverlag, mit 240 gut gefüllten Seiten. In Design und Strukturierung bleibt dieser sehr nahe an der Schau selbst. Im Pressetext versprochene zeitgenössische Positionen und Modelle bleiben deutlich in der Minderheit. Klassisch-historisches Karten- und Darstellungsmaterial in den Abbildungsmodi Vogelschau, Panorama und Grundrissplan befüllt den Großteil der Ausstellungsräume. Ein von oben gerichteter Blick auf die Stadt, der zeigt, was in ihr an tatsächlichem Leben passiert, bleibt eine Seltenheit. Dennoch gibt es Kurioses und noch nicht Gesehenes zu entdecken.
Ob nun die Frage, wie und ob eine Stadt als Ganzes gefasst werden kann bzw. die (Un)Möglichkeit eine Stadt darzustellen ausreichend und verständlich genug thematisiert wird, muss wohl verneint werden. Der Umfang und die thematische Anordnung ermöglichen es allerdings, sich ein eigenes ganzes Bild von Wien zusammenzustellen, keine schlechte Voraussetzung also um einen Besuch zu wagen.
Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.