Gefahrenherd Millionenstadt?
Besprechung von »Vom Wildwerden der Städte« von Florian RötzerFlorian Rötzer zeichnet in seinem Essay Vom Wildwerden der Städte eine düstere Zukunft. Umweltkatastrophen nehmen stark zu und drohen folgenreicher zu werden als der Tsunami im Jahr 2004. An einem Drittel aller Schadensereignisse ist heute angeblich bereits Hochwasser schuld. Aufgrund von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Bebauung gefährdeter Gebiete steigt das Risiko von Naturkatastrophen mit verheerenden Auswirkungen. Wie schlecht selbst Städte in Industrieländern auf große Katastrophen vorbereitet sind, zeigte sich letztes Jahr drastisch am Beispiel New Orleans. Als besonders gefährdet stuft Rötzer die Millionenstädte in Meeresnähe ein. Ihm ist klar, dass eine Auflösung dieser Städte unmöglich ist, und er sieht Möglichkeiten die drohenden Katastrophen abzuwenden – in einer Änderung des Lebensstils, und meint damit z. B. die Urbanität, und in einer besseren Vorsorge. Er betont weiters, dass die räumliche Verdichtung in den Städten aufgrund der Technik heute nicht mehr notwendig ist und dass Städte künftig kaum als „Behälter für Utopien“ herhalten werden, da das Leben in der Stadt die Normalität sein wird.
Gefahr droht den urbanen Zentren jedoch nicht nur durch Naturkatastrophen und Seuchen (Vogelgrippe, SARS) sondern auch durch terroristische und kriegerische Konflikte. Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen sind immer weniger die großen Schlachtfelder, dafür vielmehr die unüberschaubaren Städte, die kleinen militärisch unterlegenen Gruppen gute Chancen gegen ortsfremde und weniger flexible Einheiten einräumen. Nicht umsonst geht ein immer größerer Prozentsatz z.B. des US-Militärbudgets in Projekte wie Mini-Drohnen, Roboter, Überwachungstechnologie und in kleine Spezialtruppen, wie Rötzer schreibt.
Mit großer Skepsis sieht der Autor auch neue Freizeit- oder „intelligente“ Städte, die oft keinerlei Rücksicht auf ökologische Ressourcen nehmen (Golfplätze in der Wüste etc.) und besonders anfällig für Katastrophen aller Art sind und sei es bloß ein längerer Stromausfall. Ein zentraler Teil des Essays verweist auf einen Artikel von Richard Norton vom Naval War College, der in Ergänzung zur Theorie der failed states das Konzept der wilden Städte (feral cities) entwickelt hat und darin eine nicht unwahrscheinliche Zukunftsperspektive sieht. Diese wilden Städte zeichnen sich „durch ein weitgehendes Fehlen von sozialen Diensten und eine fehlende Rechtsordnung aus, was zu Unsicherheit und Gewaltanwendung führt. Ordnung wird durch verschiedene Gruppen (Banden, Clans, Milizen, oder Nachbarschaftsorganisationen) hergestellt, die auch die wirtschaftlichen Verbindungen tragen oder ermöglichen.“
Am interessantesten weil informativsten ist Rötzers quellenreicher Essay, wenn es um (überwachungs-)technische Zukunftspläne und Militärstrategien geht. Als Anhänger des Stadtlebens weigert man sich jedoch fast reflexartig die worst-case-Szenarien für allzu wahrscheinlich zu halten, auch wenn man nicht bestreiten kann, dass viele Gefahren drohen. Bleibt zu hoffen, dass Florian Rötzers Alptraum nicht wahr wird.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.