Maik Novotny


Genie und Wahnsinn liegen im Anarchismus immer sehr nahe beieinander, was diese politische Strömung für künstlerische Avantgardebewegungen von Dada über den Situationismus bis hin zum Punk so interessant machte. Andererseits wurde der Anarchismus nur dort zu einer breiten, gesellschaftlich wirksamen Tradition, wo er sich auf die arbeitende Klasse bezog und Gewerkschaftsgruppen initiierte, so die Analyse der beiden südafrikanischen Historiker Lucien van der Walt und Michael Schmidt in Black Flame, einer 2009 publizierten, lesenswerten Globalgeschichte des Anarchismus auf fünf Kontinenten während der letzten 150 Jahre.
       Eine lose Gruppe Studierender der Universität Tübingen veranstaltete 2017 mehrere Tagungen in Tübingen und Reggio Emilia, um den anarchistischen Wurzeln in ihrer Studienrichtung Geographie nachzuspüren und um Anarchismen in heutigen akademischen Diskursen zu popularisieren, vor allem in Abgrenzung zur marxistisch geprägten ›Radical Geography‹. Als Resultat dieser Anstrengungen erschien nun ein äußerst heterogener wissenschaftlicher Sammelband, welcher durch ein moderiertes Gespräch der beiden Herausgeber*innen eingeleitet wird, in dem Textfragmente der kollektiven – jedoch gescheiterten – Einleitung aller Beteiligten zitiert werden.
       Drei Stränge, die sich durch viele der Beiträge ziehen, sollen an dieser Stelle herausgehoben werden. Die Praxis der Besetzung wird in mehreren Beiträgen thematisiert: Zuckroprot & Paitschin schreibt über rebellische Quartiere und den Mieter*innenkampf in Basel, Daniel Dlugosch führt in die Geschichte der deutschen Bauwagenbewegung ein, als Beispiel der Verweigerung herkömmlicher Wohnregime. Ein Beitrag über Aufstandsbekämpfung erklärt Technik, Funktionsweise und Einsatztaktiken sowie die gesundheitlichen Folgen jener berüchtigten Tränengas-Splittergranaten, die von der französischen Polizei bei Demos oder Räumungen von Landbesetzungen zu Tausenden eingesetzt wurden. Ne.R.F. führt nicht nur in Hakim Beys Temporäre Autonome Zone (TAZ) ein, sondern auch ins Konzept der Safer Spaces und in die militante Praxis der lateinamerikanischen Mujeres Creando.
       Ein weiterer durchgehender Strang ist die Reflexion über die Bedingungen an der Universität selbst. Hierarchien, Sexismen und rassistische Ausschlussmechanismen werden implizit in fast allen Beiträgen mitgedacht, Marlene Hobbs, Martine Kayser, Linda Pasch und Ruth Reiferscheid widmen sich in We don’t need no patriachal education! aber auch explizit ihren Erfahrungen während einer feministischen Seminarreihe an der neoliberalen Hochschule.
       Als weiterer Strang mäandert die Geschichte des historischen Anarchismus des 19. Jahrhunderts durch das Buch: Pascale Siegrist führt ins Werk der Anarchisten und Geographen Élisée Reclus und Pëtr Kropotkin ein, der einzige aus dem Englischen übersetzte Originaltext von Myrna Margulies Breitbart von 1990 bezieht sich ebenfalls auf Kropotkin, aber auch auf den englischen Urbanisten Colin Ward.
       Diese und einige weitere theoretische Beiträge dokumentieren den Wissensstand und bilden die Zugangsweisen der Beteiligten gut ab. Es bleibt der Eindruck, durch viele unterschiedliche Fragmente die enorme Themenvielfalt anarchistischer Geographien kennengelernt zu haben. Der Widerspruch zwischen dem Anarchismus, also dem lauten Schrei nach Gerechtigkeit und Gleichheit einerseits, und der Institution Universität, also dem zentralen Reproduktionsort der Elite andererseits, scheint laufend zwischen den Zeilen durch. Besonders die Kurzbiographien der Autor*innen am Ende entblößen, wie hier die universitären Rituale dem politischen Aktivismus übergestülpt werden, und wie die Kultur der Wissenschaft die erhabenen Träume vom politischen Wandel verdrängt. Viele der beteiligten 26 Autor*innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Unikarriere aktiv sabotieren, indem sie sich dem akademischen Erfolgsrezept ›publish or vanish‹ verweigern und unter Noms de Plume firmieren. Respekt für diese Entscheidung.


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