Michael Rieper


Die Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz hat sich zu einem Juwel der österreichischen Architekturgeschichte etabliert. Grund genug, dass die Architekturforscherin Andrea Jany und das Werkgruppen-Mitglied Eugen Gross in forschender Gemeinsamkeit einen Sammelband herausgeben. Die beiden verpacken in der umfassenden Publikation Gelebte Utopien fast alles, was es zu diesem herausragendem Wohnprojekt der frühen 1970er Jahre in Graz zu sagen und zu forschen gibt bzw. gab. Wobei Eugen Gross quasi als Pressesprecher und Weiterdenker des nicht mehr aktiven Architektenkollektivs fungiert.
        Die Begeisterung und das umfassende Engagement für diese revolutionären Terrassenhäuser kann man jeder Zeile des von Eugen Gross verfassten Kapitels »Die Terrassenhaussiedlung als konkrete Utopie« entnehmen. Alles hat es gegeben, Vermittlung, begleitende soziologische Studien, bauphysikalische Experimente, Modelle, Städtebau und vieles mehr. Alles genau beschrieben und mit vielen Verweisen auf essenzielle weiterführende Quellen. Fast unterhaltsam dann die Aussage: »Der Altersstruktur (zwischen 30 und 40 Jahren, Anmerkung Red.) entsprach auch das erhöhte Nettohaushaltseinkommen von 9.000,– bis 16.000,– 
Schilling im Monat. Die potentiellen Bewohner:innen sahen sich als aufstrebende Mittelschicht.« Diese Feststellung steht leider ohne weiterführende Anmerkungen zur sozialen Bewohner:innenstruktur auf Seite 24. Heute entsprechen ATS 15.000,– aus dem Jahr 1976 ca. ATS 57.500,– also EUR 4.180,–. (https://www.statistik.at/Indexrechner/Controller)
        In den beiden Kapiteln von Andrea Jany »Steirische Perspektiven und Entwicklungen« bzw. »Entwurf und Struktur« gelingt die komprimierte Darstellung der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen zwischen 1945 und den 1970er Jahren, die erst die Basis für das Entstehen eines so aufregenden Projekts schufen. Immer wieder wird auf das unermüdliche Engagement der Architekten der Werkgruppe verwiesen, ohne deren Vision und Entschlossenheit die brutalistischen Terrassenhäuser niemals Wirklichkeit geworden wären. Bis heute scheiden sie die Geister, dabei reicht das Spektrum von Liebe bis Hass. Die meisten der Bewohner:innen mögen ihr Demonstrativbauvorhaben sehr. Jetzt steht es unter Denkmalschutz, was die Eigentümer:innen teils wenig begeistert. Die Grazer:innen, die dort nicht wohnen, sind nach wie vor skeptisch gegenüber den vier zum Teil zwölfgeschossigen städtischen Schiffen.
        Auch die begleitende bauphysikalische und strukturelle Forschung der 1970er Jahre, die vom Bundesministerium für Bauten finanziert wurde, wird dargestellt. In vielen Passagen sind die Nuancen der unermüdlichen Gespräche, die die Autor:innen mit den Architekten führten, zu spüren. Somit werden Fakten und Situationen angenehm lesbar gemacht. Ab und zu entsteht der Eindruck, dass die Architekten fast direkt aus dem Buch sprechen würden. Das macht beim Lesen richtig Spaß, inklusive dem trockenen Humor von Hermann Pichler, einem Werkgruppenmitglied. Er lebt von Anbeginn in der Terrassenhaussiedlung.
Dass das gesamte Projekt während und nach Fertigstellung von unterschiedlichsten Dissonanzen begleitet wurde, geht in der Euphorie der mehr als 14 Texte etwas unter und bekommt wenig Platz. Zu Beginn wollte niemand das Projekt finanzieren, dann fand sich nur schwer ein Konsortium an Baufirmen – die dann in Konkurs gingen – und final gipfelt alles in der Verdoppelung der Baukosten, kombiniert mit Ausführungsmängeln. Die Wohnungen waren nebenbei außerordentlich teuer. Aber genau diese Umstände führten zur Selbstverwaltung, die Eigentümer:innen wollten das Schicksal ihrer Investitionen selbst in die Hand nehmen. Schade ist somit, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingen in der Publikation kaum dargestellt sind.
        Warum die Terrassenhaussiedlung, ein letztlich über Wohnbauförderung finanziertes Eigentumsprojekt, kein genossenschaftliches Mietobjekt wurde, lag wahrscheinlich an der Grundhaltung der damals in der Steiermark Regierenden. Der rote Wiener Gemeinde- und Genossenschaftsbau wurde in der schwarzen Steiermark nicht geschätzt.
        Die Komplexität der Bauphysik und die Konservierung von Sichtbeton versucht Alexander Eberl in seiner umfassenden Recherche zum Spannungsfeld von Wärmedämmung bis Denkmalschutz zu illustrieren. Der Abschnitt »Denkmalschutz oder Klimaschutz« lässt einen vermuten, schon in der Überschrift alles verstanden zu haben. Dem ist aber nicht so. Das Thema wird detailliert und mit physikalischer Empirie aufgerollt. Die Conclusio wird hier nicht verraten.
        Wirklich grandios und lesenswert ist die 1975 verfasste Baubeschreibung der Werkgruppe Graz. Diese liest sich mehr wie ein Manifest und ich frage mich, wo diese Visionen hingekommen sind. Warum geht im angewandten Urbanismus und Wohnungsbau so Wichtiges verloren? So vieles muss wiederholt schlechter erfunden werden.
        Schließlich gelangt man mit QR-Codes einfach zu den außerordentlich ernst geführten Radiointerviews aus dem Jahr 1980. Radio Steiermark, 21.00 Uhr. Diese Gespräche wirken in Passagen wie eine Ansprache an die Nation. Die Herren Architekten sprechen konzentriert und langsam, mit tiefer Stimme über die Verbindung von Struktur, Stadt und Partizipation. Heute wäre es nicht anders.
        In der Mitte des fast 300 Seiten umfassenden Kompendiums engagiert sich Jomo Ruderer mit einem Überblick. Er gehört heute zur forschenden Mittelschicht der 30- bis 40-Jährigen. Er gibt eine Zusammenfassung zu den Aspekten der Partizipation und bezieht dabei auch alle anderen wesentlichen Sachverhalte der Terrassenhaussiedlung ein. Für Leser:innen mit wenig Zeit empfiehlt sich dieses Kapitel.
        Im Unterschied zu den beiden Herausgeber:innen habe ich als Verfasser dieser Rezension mehrere Jahre in den 1980er Jahren im Erdgeschoß der Terrassensiedlung – so wurden die vier Blöcke umgangssprachlich im 20. Jahrhundert genannt – gewohnt. Gemeinsam mit Lotte Schreiber produzierte ich 2019 einen filmischen Essay (Der Stoff aus dem die Träume sind), in dem die Riesenskulptur Terrassensiedlung eine tragende Rolle spielt. Aus dieser Perspektive erscheint der Roman über »Rupert Sumpfhuber« von Anselm Hort am Ende der Publikation als nicht notwendiger Appendix. Anekdoten des Alltags, wie z. B. herabfallende Einkaufswägen, die in die nur 4 cm (Wärmedämmung?) starken Mahagoni-Eternit-Fertigteilfensterpanele ein Loch schlagen oder verliebte Nachbar:innen fehlen darin leider. Langatmig und sprachlich nicht an die herausragende Qualität der Siedlung heranreichend, bildet der Text ein unbefriedigendes Ende der sonst so aufschlussreichen Publikation.

Prädikat: sehr lesenswert.


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