Gemeinschaften (de)konstruieren
Besprechung von »Zusammen wohnen« von Micha Fedrowitz und Ludger Gailing und »An Architektur, Nr. 10. Gemeinschaftsräume«»Seit ihrem vermehrten Auftreten in Deutschland Anfang der 80er-Jahre hat der Anteil von Gemeinschaftswohnprojekten am Wohnungsmarkt – wenn auch auf insgesamt niedrigem Niveau – erheblich zugenommen. Obwohl zunächst stark von alternativ-oppositionellen Gruppen gestützt, beruht dieses Phänomen nicht auf dem Erfolg einer gesellschaftsverändernden Utopie, vielmehr stellt der gesellschaftliche Strukturwandel selbst die Grundlage der zunehmenden Relevanz gemeinschaftlich orientierter Wohnformen dar.« So der Beginn des Resümees der Studie Zusammen wohnen, die verschiedene Arten von gemeinschaftlichen Wohnprojekten in Deutschland vergleicht und versucht, deren soziale und ökologische Potenziale aufzuzeigen. Sinn der Studie ist es, die bisher meist auf privater Basis initiierten Projekte als neue Form der Stadtplanung vorzustellen und zu zeigen, worin eine Unterstützung von öffentlicher Seite bestehen könnte oder sollte. Der zitierte Satz scheint mir ein Schlüsselsatz zu sein: Während sich die neue Ausgabe von An Architektur vor allem mit solchen Projekten beschäftigt, die einen starken politischen – auch utopischen – Ansatz verfolgen, zeigt Zusammen Wohnen die gesellschaftlichen Zwänge auf, auf die die neuen Wohnformen antworten.
Wesentliche Ursachen scheinen das Ende der Kleinfamilie als dominante Form des Zusammenlebens und die allgemeine Tendenz zur Individualisierung zu sein. Komplexe Berufsbiografien und der zunehmende Verlust verwandtschaftlicher Bande erzeugen persönliche Unsicherheit und erschweren die Bewältigung des Alltags. Der neue Zusammenhalt in Wohngemeinschaften basiert daher meist auf der Idee der gegenseitigen Erleichterung des Haushalts und der Kinderbeaufsichtigung. Betreute Wohngemeinschaften für alte Menschen sind ein weiterer Versuch, in Reaktion auf die Auflösung familialer Bande neue zu konstruieren. Häufig sind es auch alternative Lebensentwürfe, die zum Wunsch nach einem Raumangebot führen, das die Normwohnung nicht bieten kann. Von daher die Beschreibung der Gemeinschaftswohnprojekte als »innovative Lernmilieus«, als »Keimzelle« neuer »Netzwerke«, die die in ihnen entwickelten und gelebten Ideen – die von ökologischer Haushaltsführung, neuen Erziehungsformen und kulturellen Kleininstitutionen bis zu neuen Formen der beruflichen Selbstständigkeit reichen – in ihre Umgebung ausstrahlen und die so zum Motor von Stadtentwicklungsprozessen werden können.
Hier wird deutlich, dass sich Gemeinschaftswohnprojekte leicht instrumentalisieren lassen; sie sind Teil des neoliberalen Projekts, der Ideologie der »Zivilgesellschaft«, die die Verantwortung Einzelnen oder neuen Gruppen übertragen und den staatlichen Haushalt entlasten will. Dass die Möglichkeit, als BauherrIn oder eben Baugruppe aufzutreten (noch) nicht für alle besteht, ist aber klar – noch sind sie ein »Mittelschichtexperiment«. Dies ist ein wesentlicher Kritikpunkt, auf den die Studie Antwort sucht. Sollen Gemeinschaftswohnprojekte verstärkt als städtebauliche Strategie zum Einsatz kommen, sind Förderungen unabdingbar – wenn die neue »Methode« nicht zu einer sich selbst organisierenden Segregation nach Einkommensklassen führen will.[1] Neben alten, für die neuen Projekte unbrauchbaren Fördermodellen wird ein weiteres Hindernis im fehlenden günstigen Grundstücksangebot gesehen – auch die städtischen Kommunen verkaufen ihre Grundstücke gerne nach marktwirtschaftlichen Kriterien. Was in der Studie anklingt, ist Kritik an der Institution des Eigentums, das sich für die neuen Wohnformen – als gesamtheitliche Planungsstrategie – nur bedingt eignet. Insofern könnte sich hier doch eine Utopie anbahnen: Eine neue Art der Verwaltung, die weniger nach funktional differenzierten Gesichtspunkten erfolgt, sondern vielmehr in einem strategischen Umgang mit dem kommunalen Eigentum besteht, das in Form von Erbpachten nach spezifischen Kriterien vergeben wird. Dafür ist freilich Voraussetzung, dass dieses in ausreichendem Umfang zur Verfügung steht und nicht gezielt ausverkauft wird.
Der zweite nahe liegende Kritikpunkt, der ebenso genannt wird, ist die soziale Kontrolle im Inneren, die die BewohnerInnen einem starken Homogenisierungsdruck aussetzt. Ein wesentlicher Faktor eines harmonischen Zusammenwohnens ist der Gruppenbildungsprozess, der entweder eine lange Vorlaufzeit hat oder der Moderierung bedarf. Wenn die naturwüchsigen Bindungen schwach werden, bedarf es institutioneller Konstruktionen: Hier sind dann weniger WohnbauträgerInnen gefragt als Partnervermittlungen, weniger MaklerInnen als PsychologInnen. Dies kann man auch als Horrorszenario ansehen: Wohnungssuche nicht nur nach wirtschaftlichen, sondern nach sozial-psychologischen Kriterien, bei der Nicht-Teamfähige ausselektiert werden. Lange geplant und aufwändig gebaut sind Gemeinschaftswohnprojekte zu Ende gedachte Idealumgebungen, die nicht auf Veränderungen und Fluktuation eingestellt sind. Es steht dann infrage, wie sie mit Differenzen umgehen können: Ob sie auch als ideale Austragungsorte für Konflikte vorstellbar sind oder ob es um Gemeinschaften geht, die von vornherein homogen und konfliktfrei organisiert sind.
Vorsichtig tritt An Architektur an die Idee der Gemeinschaft heran, schon auf dem Titelblatt erscheint der Begriff fragmentarisiert. Die neue Ausgabe versammelt Beispiele gemeinschaftlichen Wohnens, von sowjetischen Kommunehäusern über eben diese neueren Wohnprojekte bis hin zu gemeinschaftlichen Situationen, die gerade nicht an das Wohnen gebunden sind: Temporär besetzte Orte, an denen aufgrund einer gemeinsamen Interessenslage temporäre Bündnisse geschlossen werden, nach dem Prototyp der Pariser Kommune. So geht es auch in dem der Materialsammlung vorangestellten Interview mit Joseph Vogl um die Frage einer Differenzierung des Gemeinschaftsbegriffs. »Gemeinschaft« ist nur in Opposition zu »Gesellschaft« zu denken: Während sich Erstere durch opak bleibende Bindungen auszeichnet, die von einem ursprünglich gedachten Zusammenhalt – der in der Vergangenheit meist national gedacht war – ausgehen, meint Zweitere eine medial vermittelte, transparentere Verbindung »auf der Basis von Vertraglichkeit, Rechtsförmigkeit, Personalität und kontrolliertem Austausch«; wobei die (solidarische) Gemeinschaft auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einen Fluchtpunkt darstellt. Als größte Errungenschaft der liberalen Gesellschaft nennt Vogl die »Enttotalisierung von Begegnungsformen«: »Die ideale Begegnungsform besteht darin, nicht zur Begegnung gezwungen zu werden [...]. Dazu gehört übrigens eine der wichtigsten architektonischen Erfindungen: die Tür und ihre vielseitige Dramaturgie.«
Zu dieser »Enttotalisierung« würde auch gehören, dass die Erwartungen an die (Wohn-)Gemeinschaft zurückgenommen werden und diese gerade nicht als umfassende Strategie angesehen wird. Das alte Vorbild der neuen Gemeinschaftshäuser, das mittelalterliche »Ganze Haus« – das von einer Arbeitsgemeinschaft ausging und Meister, Familie, Gesellen und Lehrlinge unter einem Dach versammelte –, war eine pragmatische Angelegenheit, die nicht alle Bedürfnisse befriedigte und diese auf den städtischen Umraum verwies. Für offene Gemeinschaften wie auch für einen diese übergreifenden Zusammenhalt scheint ihre Einbettung in einen urbanen Kontext wesentlich – und damit die Entflechtung von gebautem und sozialem Raum, die Auslagerung von verschiedenen Funktionen aus dem Haus an (teil-)öffentliche Orte, die sich an ein größeres Publikum richten und an denen sich temporäre, interessensbezogene Gemeinschaften bilden können. Wohngemeinschaften nicht als monothematische Totallösungen[2], sondern als Bestandteile einer alten neuen Stadtidee.
Micha Fedrowitz, Ludger Gailing
Zusammen wohnen
Gemeinschaftliche Wohnprojekte als
Strategie sozialer und ökologischer Stadtentwicklung
Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 112
(Blaue Reihe), 2003
143 S., EUR 14,-
Fußnoten
Christa Kamleithner