Größer als die Summe ihrer Teile – ein Handbuch zu Stadtsoziologie und Stadtentwicklung
Besprechung von »Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis« von Ingrid Breckner, Albrecht Göschel und Ulf Matthiesen (Hg.)Ingrid Breckner, Albrecht Göschel, Ulf Matthiesen (Hg.)
Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis
Baden-Baden: Nomos, 2020
847 Seiten, 148 Euro
Damit das Zusammenleben der vielen Menschen in unseren Städten funktionieren kann, braucht es erstaunlich viel: Zur Organisation der Menschen in einer gemeinsamen Stadtgesellschaft bedarf es der Aufteilung der Arbeit und der zweckmäßigen Ordnung des Raums; der Sicherstellung von Ressourcen für die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen, Erholungsangeboten, Mobilitätsinfrastrukturen und Gelegenheiten zu kultureller Ausdifferenzierung; es bedarf der Räume für politische Auseinandersetzungen darüber, wie die Gesellschaft ist und wie sie sein sollte; es bedarf notwendigerweise auch öffentlicher Räume für das mögliche Zusammentreffen gesellschaftlicher Unterschiede, sodass die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst wird.
Nicht nur Gesellschaften und Städte verändern sich immerfort, sondern auch ihre Existenzbedingungen. Es ist darum eine immerwährende Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen in den Städten weiterzuentwickeln. Die Stadt ist in diesem Sinne Projektionsfläche und Reallabor für den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt – damit dieser auf wünschenswerte Weise gelingt, gilt es eine unermessliche Fülle an Faktoren zu beachten. Ingrid Breckner, Albrecht Göschel und Ulf Matthiesen – alle drei verkörpern Jahrzehnte an Erfahrung in soziologischer Stadtforschung – führen in dem von ihnen herausgegebenen Handbuch die beachtliche Zahl von 80 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis zusammen. In sechs Kapiteln
auf 847 Seiten werden die zentralen Funktionen der Stadt in ihrem großen Facettenreichtum dargestellt.
Das Eingangskapitel leuchtet das spannungsreiche Verhältnis staatlicher, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Interessenlagen aus. Dazu wird die Entstehungsgeschichte stadtpolitischer Öffentlichkeiten beleuchtet, der Blick auf verschiedene Ausprägungen stadtbürgerlicher Mitbestimmung gerichtet und neue Formen von Öffentlichkeit und politischer Willensbildung werden diskutiert.
Im darauf folgenden Kapitel rückt die soziale, bauliche, politische und infrastrukturelle Heterogenität des Städtischen in das analytische Blickfeld. Zentral ist dabei die Frage, wie die Integration gesellschaftlicher Vielfalt in der Stadt gelingen kann und welche Formen gesellschaftlicher Teilhabe und Zugehörigkeit dazu notwendig sind.
Das dritte Kapitel widmet sich dem weiten Themenfeld städtischer Kultur. Behandelt werden die Ausprägungen der Individualisierung der Menschen und des städtischen Raums – urbane Lebensstile, Identitäten, unterschiedliche Baukulturen, Stadttypologien sowie politische Inszenierungen der Stadt.
Unter der Überschrift Utopien, Visionen und Leitbilder der Stadt sind Beiträge zur Geschichte und Zukunft der Stadtentwicklung versammelt. Von jeher nahm das Entwerfen von Bildern möglicher Zukünfte in der Weiterentwicklung der Städte eine zentrale Rolle ein.
In den Beiträgen über die Rolle von Städten als Inkubatoren von gesellschaftlichen Innovationen geht es um nicht weniger als die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erhebung und planerischen Handelns angesichts unüberschaubarer Komplexität.
Das abschließende Kapitel informiert Interessierte über wichtige Institutionen, Publikationsorgane und Studiengänge im Feld sozialwissenschaftlich orientierter Analyse von Stadtentwicklung. Nicht zuletzt mit diesen Empfehlungen lädt das Buch dazu ein, den Diskurs über Stadtsoziologie und Stadtentwicklung selbsttätig zu verfolgen.
Der Zusammenstellung an Beiträgen gelingt es in erhellender Weise, die Vielfalt von Theorien, Methoden und praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Fragestellungen aus Stadtsoziologie und Stadtentwicklung zu vermitteln. Wenngleich in manchem Artikel durch die Verwendung auffallend vieler Fremdwörter oder sperrig geratener Wortneuschöpfungen unnötige Sprachbarrieren errichtet werden, eignet sich das Buch gleichermaßen zum stöbern- den Querlesen wie als Inspirationsquelle für weiterführende Vertiefung: Geschichte, Entwicklung, Politik, Gemeinwesen, Wettbewerb, Protest, Öffentlichkeit, Integration, Wandel, Migration, Ungleichheit, Polarisierung, Wachstum, Arbeit, Wohnen, Nachbarschaft, Lebensweisen, Infrastruktur, Technik, Mobilität, Gesundheit, Gewalt, Angst, Zeit, Kultur, Umwelt, Identität, Erbe, Utopie, Architektur, Raum, Macht, Zukunft, Komplexität, Innovation, Nachhaltigkeit, Klima, Wissen, Forschung, Planung ... – all dies sind Schlagwörter des Inhaltsverzeichnisses, die das breite Themenspektrum des Buches zeigen. Die Stadt ist die materielle Verfestigung von Gesellschaft – oder, wie Walter Siebel schreibt: »Stadt ist eine soziale Tatsache, die räumlich Gestalt angenommen hat.« Durch die Lektüre des Handbuchs kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass die Stadt in all ihren Zusammenhängen das Produkt menschlichen Handelns ist und in ihrer Gesamtheit für den Menschen dennoch kaum zu fassen ist. Vor allen Dingen ist immer damit zu rechnen, dass das Städtische nie in Gänze berechenbar ist. Das zeigte sich nicht zuletzt eindrücklich durch die Auswirkungen der weltweiten Pandemie, welche die Redaktion auf der Zielgeraden überrumpelte.
»So vielfältig wie Menschen Stadt betrachten, erleben oder davon reden, so vielfältig ist der wissenschaftliche Zugriff, wenn es um die Erforschung derselben geht«, bemerkt Gabriele Sturm in ihrem Beitrag. Wer in Theorie und/oder Praxis zu verstehen sucht, was es alles dazu braucht, damit das Zusammenleben der Menschen in Städten funktionieren kann und wer sich ferner fragt, wie trotz der Vielzahl möglicher Einflussfaktoren gedankliche und praktische Handlungsfähigkeit zu entwickeln ist, der ist gut beraten, dieses Buch zur Hand zu nehmen.
Sebastian Bührig