Grundstimmungen färben sich nicht
ich lag in einem kleinen, kargen Raum, auf einer harten Unterlage, auf dem Rücken. mein Blick war nach oben gerichtet. Eine nackte Glühbirne an der Decke des Raums; die Augen waren offen, aber so sicher war ich mir da nicht. Durch das große, mit einem groben Holzverschlag versehene Fenster kam heiße feuchte Luft herein. Um mich herum war Fremde und auf dem Boden liegend versuchte ich mich an das Eigene zu erinnern. Gedanken bewegten sich langsam.
Freiheit oder Gefängnis? Jedenfalls war ich auf eine Reise gegangen. Eine zeiträumliche Distortion hatte mich erfasst. Ich war ins Flugzeug gestiegen - unter mir entfernte sich Europa ... zuerst sah ich Berge, dann ein paar Seen, dann andere Berge ... ich versuchte Menschen zu erkennen ... dann vielen mir die Wege auf; schwarze Linien auf dem Rotbraun der Berge.
Vereinzelt, zittrige Wege; jeder einzelne von ihnen einige Reisen wert - ich dachte an die Menschen, die diese Wege benutzen ... Füße, die das Gras zertrampelten ... organisch gewachsene Wege ... es sah aus wie ein Netz von Adern, das einen großen, gutmütigen Organismus überwucherte. menschenleben, die sich abzeichneten und bewegten ..
... dann sah ich das Meer (und ich sah, wenn auch nicht deutlich), wo das Land aufhörte und das Wasser begann. ich sah die Konturen der iberischen Halbinsel und ich sah den Kontinent, den ich verlassen sollte.
abgereist sein. den süden der vereinigten staaten überfliegend: städte, wie am Reißbrett gezeichnet. Normale und Orthogonale. streets und avenues. von maschinen geschaffen. zwischenlandung miami. straßen und siedlungen, die bis ins meer hinein reichten. emsige kraftfahrzeuge.
Die Umrisse des mittelamerikanischen Kontinents, sah ich leider nicht. Es war schon dunkel als ich ankam und es regnete.
ich landete (abseits der touristischen Pfade) in einem kleinen Dorf, irgendwo in den Bergen.
Alles um mich war fremd, besonders an den Tagesablauf musste ich gewöhnen. In der Früh genoss man ein ausgiebiges und nahrreiches Frühstück (Reis und Bohnen), dann wurde das Tagwerk angegangen. Etwa zu Mittag setzte der Regen ein (aber so genau konnte man das nie sagen). Der Nachmittag war wegen der Hitze kaum zu gebrauchen und kurz vor der Dämmerung regnete es wieder (manchmal die ganze Nacht lang).
Es war Nachmittag und es hatte gerade zu regnen aufgehört, als ich wieder einmal auf meinem Rücken in dem kargen Raum lag. den Blick an die Decke geheftet. die Glühbirne starrte mich an – Glas; dahinter das Grau der Decke.
Dann sah ich die kleinen Ameisen. Fast hätten meine Augen ihre Bewegung übersehen.
Sie spazierten auf einem der dicken Stützbalken der Decke. eine ameisenstraße. ich lag (fast genau) darunter. Woher kamen Sie? Wohin gingen Sie? - sie schienen es selbst nicht so genau zu wissen. Wie ich mich nachher vor dem Haus vergewissern konnte, hatte ihre Straße zwar so etwas wie eine Richtung (sie führte von draußen in die Küche und von dort in den kargen Raum), manche von ihnen aber blieben plötzlich stehen, oder gingen in eine andere Richtung (Ob sie den Weg vergessen hatten, oder als ob sie genug hatten, vom Trott?).
meine Augen folgten einer von ihnen. Sie ging den Stützbalken entlang. sah aus, wie ein Automobil, das geschlängelte Überholmanöver durchführte.
emsige Geschwindigkeit. eine ameisenschnellstraße; funktionswesen, staatenbildend, maschinell und elektrisch...
Meine Ameise verschwand unter einem Querbalken. ich beobachtete, wie sie auf der anderen Seite wieder auftauchte und ihren Weg fortsetzte. Dann verschwand sie - die Straße schien irgendwo in die Decke zu führen. Knapp vor der nackten Glühbirne hörte sie auf. (ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Ameise ihre Reise hinter der Decke fortsetzte. den Balken entlang, in richtung Dachfirst. den Dachfirst entlang bis zur Regenrinne. die Regenrinne hinunter, über die Rückseite des Hauses, wieder in den Wald hinein ..)
Später einmal, auf einem der tausenden mittelamerikanischen Wege, die durch den Regenwald führten [1] (oder war es nur ein, unendlich verzweigter Weg?); später einmal, konnte ich mich vergewissern, dass die Ameisen auf ihren Wegen Gegenstände transportierten. Ein Zuckermolekül. Das grüne Stück eines Blattes. Ein totes Tier. Ein paar Zypressennadeln. (manchesmal sah es so aus, als ob diese Dinge, wie von zittriger Geisterhand geführt, knapp über dem Boden schwebten). ihre straßen waren peinlich sauber. ich lag auf dem Rücken und starrte and die Decke.
Die Bewegung der Ameisen schien niemals abzureißen. Vom Blick, den diese Ameisen ihre Ameisenstraße entlang trugen, war ich weit entfernt. ich konnte ihre wirklichkeit nur von Außen betrachten.
Später dann, als ich schon fast angekommen war und viele Male auf der harten Unterlage gelegen hatte, wurde mir klar, dass meine Reise ein Privileg war. Sie beinhaltete den Luxus, meine eigene Wirklichkeit für einen ausgedehnten Zeitraum verlassen zu können. Für drei Wochen hatte ich die mich bestimmende europäische Wirklichkeit unterbrochen und durch eine andere Wirklichkeit, die Fremde hier, ersetzt.
Im Gegensatz zu den Bereisten, würde ich diesen Ort und diese Wirklichkeit wieder verlassen, um in den Überfluss und die Kälte meiner europäischen Heimat zurückzukehren. Für die meisten Menschen hier hingegen, gab es keine Möglichkeiten ihre Wirklichkeit zu verlassen (natürlich verfügten die meisten Haushalte über Fernseher und natürlich gab es psychogene Substanzen).
... die Fernseher, die sich auch schon auf dem Land durchzusetzen begannen, zeigten bevorzugt amerikanische Werbung und Filme. Achten Sie auf die Marke, damit Sie wissen, worin ihre Armut besteht.
ansonsten bewegten sich die Blicke innerhalb des Systems.
Es fehlte an der Möglichkeit als teilnahmsloser Beobachter, in sicherer Entfernung auf die eigene Wirklichkeit (von oben oder von unten?) zurückzuschauen. perspektivenmangel. Soviel zu Globalisierung: Es gibt Flugzeuge und es gibt Ameisen. Die Welt teilt sich in Reisende und Bereiste.
Ich dachte an den Blick, der von Europa geprägt worden war und nun auf den fremden Kontinenten traf und ich dachte an den (veränderten) Blick, den ich wieder nach Europa mitnehmen würde. Der Blick vom Eigenen auf das Fremde (ein hoffnungsvoller Blick) und der Blick aus der Fremde auf das Eigene (ein resignierender Blick).
ein anderes mal (und wieder nach europa zurück geworfen) bewegt man sich eiskalt und emsig im veränderlichen Fließen der (Groß)stadt. Das erste, was mir hier auffiel war die Ruhe – Europa das Museum. kommunikationsarmut in Straßen, Bussen und öffentlichen Plätzen. Die Gewöhnung an das Eigene erfolgte denkbar schnell.
Diese Wege schienen sich im beständigen Kampf gegen den Regenwald zu befinden. Ein unumgänglicher Begleiter auf ihnen war die Machete, mit der man (wenn es nötig war) das wuchernde Grün ein wenig zurückweisen konnte. Allerdings, so hatte man das Gefühl, war es bloß eine Frage der Zeit bis die Natur sich diese Wege zurückerobern würde – alles war vorübergehend, von Dauer war hier nichts. ↩︎
Jonas Marosi