Gutes auf den Boden bringen!
Besprechung von »Die Bodenfrage – Klima, Ökonomie, Gemeinwohl« von Stefan Rettich & Sabine Tastel (Hg.) und des Ausstellungskatalogs »Boden für Alle« des Architekturzentrum WienStefan Rettich & Sabine Tastel (Hg.)
Die Bodenfrage – Klima, Ökonomie, Gemeinwohl
Berlin: Jovis, 2020
144 Seiten, 16 Euro
Katalog
Angelika Fitz, Karoline Mayer, Katharina Ritter, Architekturzentrum Wien (Hg.)
Boden für Alle
Zürich: Park Books, 2020
320 Seiten, 38 Euro
Ausstellung
Architekturzentrum Wien
9.12.2020–19.7.2021
Kuratorinnen: Karoline Mayer, Katharina Ritter, Az W
Es liest sich fast wie eine Binsenweisheit: Mit dem Mantra »Der Boden ist ein nicht vermehrbares Gut ...« versuchen Planer*innen, Forscher*innen und Initiativen seit Jahrzehnten an die Vernunft von Politiker*innen zu appellieren, doch endlich einen nachhaltigen Weg in der Bodenpolitik einzuschlagen. Bislang mit mäßigem Erfolg. Wie sehr die Sache mittlerweile drängt, beweisen zwei Ausstellungen und deren lesenswerte Publikationen, die sich der Bodenfrage aus deutscher und österreichischer Perspektive widmen.
Boden ist eine komplexe Querschnittsmaterie, an der eine Vielzahl an Verwerfungen unseres kapitalistischen Gesellschaftssystems sichtbar werden. Der Umgang mit dieser ebenso wertvollen wie beschränkten Ressource hat Auswirkungen auf »Klima, Ökonomie, Gemeinwohl« wie es die Publikation Die Bodenfrage, basierend auf einer Ausstellung der Universität Kassel in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, bereits im Titel trägt. Auf 144 komprimierten Seiten widmet sich das Handbuch, herausgegeben von Stefan Rettich und Sabine Tastel, der Auseinandersetzung mit dem Zukunftsthema des 21. Jahrhunderts. Obwohl im Detail auf die Situation in Deutschland zugeschnitten, besitzen viele der analysierten Phänomene allgemeine Gültigkeit. Der lesenswerte Band bemüht sich sichtlich um breites Verständnis, will gesellschaftliches Bewusstsein schaffen und aufrütteln. Vier einführende Essays geben Einblicke in die komplexen Zusammenhänge zwischen der Handelsware Boden und Niedrigzinsen, Eigentums- und Steuerrecht, Wohnbedarf und Flächenverbrauch, Landwirtschaft, Versiegelung, Biodiversität und Klimakrise. Den größten Teil der Publikation nimmt ein anschauliches Manual ein, das in den drei Kapiteln Klima – der Boden als Klimaakteur, Ökonomie – der Boden als Wirtschaftsgut und Ware und Gemeinwohl – der Boden als Ort der Gemeinschaft mit aktuellen Daten und übersichtlichen Grafiken knapp und informativ 36 zentrale Aspekte der Bodenfrage verständlich macht, Problemlagen benennt und Lösungswege aufzeigt. Dank Querverweisen auf andere Einträge des Manuals entfaltet sich beim Lesen durch Vor- und Zurückblättern die ganze Komplexität der Thematik auf übersichtliche und durch informative Grafiken anschauliche Weise. Fünf abschließende Perspektiven behandeln bodenreformatorische Ansätze der Vergangenheit und Spielräume für die Gegenwart, Boden als »blinden Fleck unseres Wirtschaftssystems«, »Gemeinwohlorientierte Bodenpolitik [als] Kernelement nachhaltiger Stadtentwicklung« sowie die Auswirkungen der Bodenfrage auf den Agrarraum. Dass dabei auch auf Bibelzitate zurückgegriffen wird, um die Notwendigkeit einer Wende in der Bodenpolitik zu untermauern, mag als Versuch gedeutet werden, auch konservative Kräfte für die Sache zu gewinnen. Der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel und die Dringlichkeit der Bodenfrage so manchen argumentativen Exkurs.
Auch das Wiener Architekturzentrum widmet sich in seiner aktuellen Ausstellung Boden für Alle der Bodenfrage. Der Lockdown verhindert immer wieder, dass die Ausstellung besichtigt werden kann. Vorausschauend ist das Ausstellungsende nun auf den 19. Juli verschoben worden, es sollte also noch ausreichend Gelegenheit geben, die Schau zu besuchen. Vorerst nehmen wir Corona-bedingt mit dem Katalog vorlieb. Wie den Kolleg*innen in Kassel ist es auch dem Az W ein Anliegen, die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung zum Thema Boden breit anzustoßen. »Die Zeit ist reif für einen tiefer gehenden Diskurs über Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit« verweist bereits das einleitende Kapitel sowohl auf die ökonomische als auch auf die ökologische Perspektive, und natürlich um die »planerischen, aber auch die rechtlichen Aspekte, die die Gestaltung unserer gebauten (und nicht gebauten) Umwelt beeinflussen«. Inhalt und Grafik des Katalogs bemühen sich in ihrer Aufbereitung daher um Vermittlung über die Grenzen des Fachpublikums hinaus. Wenigen längeren Texten, die sich mit grundlegenden Aspekten auseinandersetzen, stehen viele kurze Projektvorstellungen, Infografiken und auch Comics gegenüber. Dem Katalog gelingt es, die Wichtigkeit des Themas kurzweilig und überzeugend darzulegen, ebenso wie auf viele Missstände hinzuweisen.
Die Ursachen für Ressourcenverschwendung und Geschäftemacherei sind breit gestreut, liegen teils in rechtlichen Bestimmungen, teils in persönlichen Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten auf falschen Ebenen. Der Kern des Problems ist jedoch die historisch belegte Tatsache, dass Boden im Laufe der Geschichte zur Ware gemacht wurde, mit der sich spekulieren und viel Geld verdienen lässt. Die Industrialisierung des frühkapitalistischen Großbritanniens war nur möglich, weil die Landbevölkerung ihrer Lebensgrundlage durch Privatisierung der Commons beraubt wurde. Nur durch diese Enteignung konnte jene Masse an Menschen erzeugt werden, die für die Verrichtung der Arbeit benötigt wurde. Ihres Gemeinguts beraubt, blieb der Landbevölkerung keine andere Wahl, als in die Städte zu ziehen und ihre Arbeitskraft in den Industriebetrieben des aufkommenden Kapitalismus ausbeuten zu lassen. Ein spezifisch österreichisches Problem ist die hierzulande enorm starke Absicherung des Eigentumsrechts. Am Beispiel der Privatisierung von Widmungsgewinnen und der rechtlich gebotenen Entschädigung in Höhe des Verkehrswerts im Fall von Enteignung oder Rückwidmung lässt sich dieser Irrsinn gut darstellen. Dabei gibt es zahlreiche Modelle für einen gemeinwohlorientierten Umgang mit Widmungsgewinnen: Die städtebaulichen Verträge, die es dafür in Wien seit einigen Jahren gibt, sind ein vergleichsweise weiches, und nicht immer taugliches Mittel. Dem gegenüber präsentiert der Katalog das beeindruckende Gegenmodell der Baseler Mehrwertabgabe.
Bei der Auswahl der Praxisbeispiele für die Ausstellung lässt sich nur schwer ein roter Faden finden: Manche scheinen als Modell wichtig und gut gewählt (Erlenmatt Ost, habiTAT, Transparenzdatenbank, Land Matrix …), andere bei am Thema Interessierten gut bekannt (Stadtautobahn Seoul), aber trotzdem nach wie vor so eindrucksvoll, dass es richtig ist, sie einem breiteren Publikum zu zeigen. Bei einigen anderen (This is the Public Domain) fragt man sich allerdings doch, ob nicht andere Schwerpunktsetzungen wichtiger gewesen wären. So fehlt das Modell des Community Land Trusts beispielsweise komplett. Es hat seine größte Bedeutung zwar im angloamerikanischen Raum, mit der Berliner Stadtbodenstiftung hätte es aber auch im deutschsprachigen Raum ein gutes und aktuelles Beispiel gegeben. Auch andere wichtige Initiativen wie die Stiftungen Edith Mayron, Trias oder auch die österreichische Munus-Stiftung sowie die deutsche Kulturland Genossenschaft kommen als Beispiele nicht vor. Auch dem gerade für Österreich so wichtigen Thema der Gemeinnützigkeit wird kein entsprechender Raum gewidmet. Das wär gerade im Hinblick auf die Novelle des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes von 2019, die den Verkauf von mit öffentlichen Mitteln geförderte Wohnungen erleichtert, ein wichtiger Beitrag gewesen. Die Einschätzung der Bedeutung des Themas Commons für den urbanen und ländlichen Raum durch die Kuratorinnen überrascht, wenn sie schreiben, dass sich diese in den »Online-Bereich verlagert hat«. Gerade in den letzten Jahren gab und gibt es zahlreiche Bemühungen, diese Debatte voranzubringen und für das Gemeinwohl nutzbar zu machen (siehe z. B. auch den Text zu Commons in Ex-Jugoslawien in diesem Heft).
Möglicherweise erschließen sich aber auch einige der vorgestellten Projekte im Ausstellungskontext, ergänzt durch zusätzliches Material wie Videos besser und man kann sich ein umfangreicheres Bild machen. Der Ausstellung ist zu wünschen, dass sie ähnlich wie eine ihrer Vorgängerinnen, die Ausstellung Form follows Paragraph, auf die als Vorbild mehrfach verwiesen wird, auf ein großes und interessiertes Publikum trifft und ihre Inhalte und ihr Anliegen erfolgreich vermittelt. Wir freuen uns auf die Ausstellung.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.