Hafenstadt, herausgeputzt
Besprechung von »Port Cities as Areas of Transition« herausgegeben von Waltraud Kokot, Mijal Gandelsman-Trier, Kathrin Wildner und Astrid WonnebergerDie Stadt, die sich zum Meer hin öffnet, Anknüpfungspunkt an die große, weite Welt, Tummelplatz von Matrosen und Weltenbummlern, Handelspunkt und vielsprachiger Moloch: ein paar der vielen denkbaren Charakterisierungen von Hafenstadt. Dementsprechend existierte lange ein kohärentes Imaginäres, das immer neue AutorInnen zum Verfassen von Mystères de Marseille oder Misteri di Napoli anhielt. Ein wichtiger Meilenstein in der hafenstadtspezifischen Literaturhistorie ist auch das Journal du voleur von Jean Genet, in dem ein gar grauslich Bild von Barcelona gezeichnet wird, das die intellektuelle Elite Frankreichs verzückt erschaudern ließ und lange intakt blieb. Denken ließe sich auch an Anna Seghers’ Transit, Lion Feuchtwangers Der Teufel in Südfrankreich oder Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon, wo Hafenstadt gleichbedeutend mit der Hoffnung auf Flucht vor mörderischen Nazigreueln ist.
Gleichwohl lohnt es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dieses Imaginäre einer Prüfung zu unterziehen und einen genaueren Blick auf diese Art von urbanen Kosmen zu werfen, die womöglich längst aufgehört haben, eine Aura des prickelnden, verruchten Unheimlichen zu verströmen. Seit nämlich 1956 das Patent des Schiffcontainers durch den amerikanischen Transportunternehmer Malcolm Purcell McLean angemeldet wurde, hat die globale Handelsschifffahrt neue Dimensionen angenommen, welche naturgemäß auch auf die Hafenstadt an sich rückwirkten. (Eine exzellente Überschau von 50 Jahren Geschichte der Containerschifffahrt bietet Marc Levinson, The Box. How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger (2006).) Unwichtigere Regionalzentren werden nicht mehr angefahren, große Containerhäfen nehmen Ausmaße an, die zu ihrer Verlegung weit außerhalb der Stadtkerne führen. Als Konsequenz liegen innerstädtische Hafenanlagen weltweit brach und müssen neuen Nutzungen zugeführt werden. Ein städtebauliches Muster, das in den 1950er-Jahren in den USA lanciert wurde und seine ersten Anwendungen in Baltimore, San Francisco und Boston erfuhr, beläuft sich auf die Umwidmung der zu verhübschenden Waterfront zu attraktiven Wohnvierteln und Dienstleistungszentren in begehrter Lage. Fast unnötig hinzuzufügen, dass für rote Laternen vor Hafenspelunken da wenig Platz bleibt.
Ein soeben im transcript Verlag erschienener, unbedingt lesenswerter Sammelband befasst sich nun aus ethnografischer Perspektive mit dem Phänomen von Port Cities as Areas of Transition. Herausgegeben von Waltraud Kokot, Mijal Gandelsman-Trier, Kathrin Wildner und Astrid Wonneberger, versammelt das Buch eine Reihe von Beiträgen, die auf Feldforschungen in geografisch und kulturell signifikant verschiedenen Hafenzentren beruhen: Dublin, Montevideo, Hamburg, Algeciras, Belém (BR), Thessaloniki, Varna und Istanbul werden von den AutorInnen genauer unter die Lupe genommen.
Was bleibt, ist der etwas schale Nachgeschmack eines weltweit angewandten Modells, das Hafenstädte den Ansprüchen der Erlebnisgesellschaft genügen lässt. Dirk Schubert bringt dabei in seinem Beitrag eine kurzschlussähnliche Funktionsweise auf den Punkt: „It is remarkable how the US American model successfully copies European port cities and idyllic market places, to then transfer these back to Europe and Asia – modified into a commercial US concept.“ Ein aus lieblichen Vorstellungen generiertes Bild von Hafenstadt steht also Modell für die allmähliche Transformation sich allerorts verdächtig ähnlich sehender Uferverbauungen. Vielleicht ist es ja wirklich ein wenig schade für diesen besonderen Städtetypus, dass nicht mehr Schiffe dort vor Anker liegen und Seeleute durch enge Gässchen streunen, während eine Ladung bunter Waren gelöscht wird. Schließlich, doch dies sei zum Abschluss bloß kurz erwähnt, ist für Michel Foucault das Schiff die Heterotopie schlechthin als ein über sich selbst hinaus verweisender Ort, der, ein größtmögliches Imaginationsreservoir (la plus grande réserve d‘imagination), rast- und ruhelos von Hafen zu Hafen ein Netz über den gesamten Erdball spinnt.
Daniel Kalt lebt als Kulturwissenschaftler, freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Paris.