Hoffnung und Verzweiflung in Marseille nach der Flucht aus Nazi-Deutschland
Besprechung von »Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur« von Uwe WittstockDie Flucht aus Nazideutschland führte viele Verfolgte nach Paris, wo sie sich oft unter schwierigen ökonomischen Bedingungen durchschlagen mussten, aber in Sicherheit waren. Das änderte sich mit dem Einmarsch der Nazis. Der Schock saß nicht nur bei den Franzosen und Französinnen tief, sondern natürlich auch bei den in höchster Gefahr befindlichen Exilant:innen, die plötzlich gezwungen waren, ihre Flucht fortzusetzen. Der Aufbruch gestaltete sich chaotisch, hektisch und gefährlich. Straßen und öffentliche Verkehrsmittel waren überfüllt. Viele machten sich zu Fuß auf den Weg, immer in Angst vor deutschen Bombern und Soldaten. Viele Schriftsteller:innen haben über ihre Erlebnisse berichtet.
Hertha Pauli, in Wien geborene Schriftstellerin und Schauspielerin, hat mit Der Riss der Zeit geht durch mein Herz ihre damaligen Erlebnisse niedergeschrieben. Ihre erstmals 1970 erschienenen unbedingt lesenswerten Erinnerungen wurden vor zwei Jahren bei Zsolnay neu herausgebracht. Eva Geber hat – ebenfalls 2022 – ein auf den Tagebüchern der Fotografin Madame D’Ora, mit bürgerlichem Namen Dora Kallmus, basierendes Buch veröffentlicht. Auch D’Ora musste damals überstürzt aus Paris fliehen, wo sie ein Atelier hatte. D’Ora konnte sich bis zum Kriegsende in Südfrankreich verstecken, die Mehrzahl versuchte jedoch aus Europa wegzukommen.
Uwe Wittstock hat viele dieser Fluchtgeschichten recherchiert und in seinem Buch Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur dokumentiert. Marseille ist der Knotenpunkt all dieser Geschichten, weil es dort Botschaften und Konsulate gab, von denen man sich Visa oder sonstige Unterstützungen erwartete. Außerdem war es der Ort, an dem man hoffte, die neuesten Informationen über Fluchtrouten und -möglichkeiten und die politische Lage zu erfahren. Da sich die Situation von einem auf den anderen Tag ändern konnte, war es überlebenswichtig, gut informiert zu sein. Die kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers geriet beispielsweise in eine lebensgefährliche Situation, als sie feststellen musste, dass sie von der sowjetischen Botschaft nach dem Hitler-Stalin-Pakt keinerlei Schutz mehr erwarten konnte. Andere mussten die Erfahrung machen, dass die US-amerikanische Botschaft keine Visa ausstellte, wenn man nicht bestätigte, keiner anarchistischen oder kommunistischen Organisation anzugehören, nach Mitgliedschaften in faschistischen Gruppierungen oder Parteien wurde nicht gefragt.
Große Erschütterung lösten in der Exilant:innengemeinde die Waffenstillstandsverhandlungen des Vichy-Regimes mit den Deutschen aus. Nicht zu Unrecht fürchteten sie um ihren letzten Zufluchtsort, denn Marschall Petain akzeptierte die von Deutschland diktierten Bedingungen für den Waffenstillstand. Der Vertrag sah vor, dass »alle in Frankreich befindlichen Deutschen, die von der Deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern« sind. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages wurde der Hafen von Marseille geschlossen und damit ein möglicher Fluchtweg versperrt. Ab Kriegsbeginn fuhren die Transatlantikschiffe nur mehr von Lissabon ab, es brauchte also Transitvisa für Spanien und Frankreich. Viele Exilant:innen wurden in vom Vichy-Regime betriebenen Internierungslagern wie beispielsweise dem 1939 errichteten Camp de Gurs festgehalten, in dem katastrophale hygienische und gesundheitliche Zustände herrschten und täglich mehrere Menschen starben.
Wittstock erzählt aber nicht nur die Geschichte der meist jüdischen und/oder linken Literat:innen und Künstler:innen, son- dern auch die Geschichte eines US-amerikanischen Hilfsnetzwerks, das von Marseille aus operierte. Es handelt sich dabei um das Emergency Rescue Committee, das von Varian Fry geleitet wurde, der trotz aller Widerstände – auch aus den USA – alles tat, um so vielen Verfolgten wie möglich zur Flucht zu verhelfen. Eine frühe, äußerst wichtige Unterstützerin des Komitees war Eleanor Roosevelt, Frau von Franklin D. Roosevelt, dem Präsidenten der USA. Sie hatte Lion Feuchtwanger 1933 auf dessen Lesereise durch die USA kennen und schätzen gelernt. 1940 bekam sie ein Foto zu sehen, das Feuchtwanger, interniert im französischen Internierungslager Camp Les Milles, in elendem Zustand zeigte. Für Roosevelt der Anlass, alles zu tun, um die Flucht der in Frankreich Festsitzenden zu ermöglichen.
Fry baute ein Team von Mitarbeiter:innen auf, um Unterstützung jeglicher Art zu leisten. Das Hauptziel war die Flucht aus Frankreich zu unterstützen. Dafür wurden Fluchtrouten über die Pyrenäen ebenso ausgekundschaftet, wie trotz der Sperre des Hafens immer wieder versucht wurde, Schiffe für die Flucht zu organisieren. Wenn notwendig, arbeitete das Komitee dafür auch mit der Mafia zusammen. Die Arbeit war mit mannigfaltigen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Aufgabe, ein Informationsbüro zu leiten, über dessen Existenz möglichst alle, die fliehen mussten, erfahren sollten und andererseits die Notwendigkeit sehr konspirativ zu arbeiten, war ein große Herausforderung. Das Komitee konnte rund 2.000 Menschen zur Flucht verhelfen, darunter viele Prominente wie Hannah Arendt, Max Ernst, Franz Werfel, André Breton, Marc Chagall, Max Ophüls, Siegfried Krakauer, Marcel Duchamp, Heinrich Mann, Alma Mahler-Werfel, Anna Seghers, Alfred Polgar und Claude Lévi-Strauss. Im September 1941 wurde Fry wegen seiner Tätigkeit aus Frankreich abgeschoben.
Wittstock ist mit Marseille 1940 ein eindrückliches Buch gelungen. Selbst wenn man schon einiges aus der individuellen Perspektive von Schriftsteller:innen über ihre Zeit im Marseille des Vichy-Frankreichs gelesen hat, erhält man durch Wittstocks detaillierte und umfassende Schilderung neue Eindrücke und Einblicke in die mörderische Politik eines bestialischen Regimes. Trotzdem ist es kaum zu fassen, welch perfider Hass und bösartiger Verfolgungswille in einem totalitären Regime den Alltag prägt.
Uwe Wittstock
Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
München: C. H. Beck, 2024
351 Seiten, 26 Euro
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.