Ich bin einer Privatisierung und Vermarktung kommunalen Eigentums gänzlich feindlich eingestellt
Roger Keil im InterviewRoger Keil ist Professor für Umweltstudien und Politikwissenschaft an der York Universität in Toronto. Sein Forschungsschwerpunkt ist die städtische Ökologie-Politik. Das Interview mit Roger Keil führten Daniela Hohenwallner und Christoph Laimer.
dérive: Sie sind Gründungsmitglied des International Network of Urban Research and Action (INURA). Können Sie uns etwas über die Idee dieses Netzwerkes und atuelle Projekte erzählen?
Roger Keil: INURA wurde im Mai 1991 in Maloia in den Schweizer Alpen ins Leben gerufen. StadtforscherInnen und BewegungspraktikerInnen aus Europa und Nordamerika trafen sich dort auf Einladung des Zürcher Ssenter for Applied Urbanism (SAU) für eine Woche, um analytische und strategische Initiativen in verschiedenen Städten zu koordinieren und ein Netzwerk von AkademikerInnen und AktivistInnen zu gründen. Seither treffen sich die Mitglieder von INURA jährlich an jeweils verschiedenen Orten, um gemeinsame Aktionen, Forschungen und Veröffentlichungen zu planen. Während die Kerngruppe von INURA seit nunmehr 10 Jahren stabil ist, sind seither Dutzende von neuen StadtforscherInnen zu uns hinzugestoßen. Neben den jährlichen Konferenzen und Stadttouren finden eine Vielzahl von bilateralen persönlichen und institutionellen Kontakten statt. Wir nehmen gemeinsam an Konferenzen teil, organisieren kulturelle und politische Veranstaltungen in verschiedenen Städten und publizieren gemeinsam. Einen hervorragenden Überblick über die Arbeit von INURA vermittelt ein von INURA Zürich 1998 herausgegebener Sammelband unter dem Namen Possible Urban Worlds, der beim Birkhäuser Verlag Basel erschienen ist. Auch auf der Website www.inura.org kann man sich über unsere aktuellen Aktivitäten kundig machen. Gegenwärtig sind wir mit dem Aufbau eines INURA-Institutes beschäftigt, das voraussichtlich in Zürich angesiedelt sein wird. Unsere nächste Konferenz findet Ende September in Florenz statt. Informationen dazu finden sich auf der Website.
dérive: Der Bericht »Reinventing the Cities«, der im Rahmen der Rio-Nachfolgekonferenz in Berlin verfasst wurde (siehe dérive Nr. zwei), zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie systemimmanente Antagonismen auszublenden und so zu tun, als wären durch ein wenig guten Willen die Probleme aller Städte lösbar. Sehen Sie eine Möglichkeit dieser Strömung etwas entgegenzusetzen?
Keil: Ja, das entspricht auch meiner Einschätzung. Was lässt sich in dieser Situation tun? Ich denke, in erster Linie muss es darum gehen, theoretisch dem herrschenden Diskurs zur Frage der Stadtökologie einen kritischen Diskurs über die sozialen (städtischen) Naturverhältnisse entgegenzusetzen. Eine kritische Stadtökologie, die Fragen der Umweltgerechtigkeit und der Emanzipation mit einschließt, kann diese Strömung in der Theorie in Frage stellen. In der Praxis wird es notwendig sein, städtische Umweltfragen wieder stärker zu politisieren, um sie dem technokratischen Denken und Handeln zu entreißen. Eine dezidiert sozialkonstruktivistische Naturauffassung (d.h. ein Naturbild, dass von der diskursiven Konstruktion der Natur ausgeht) muss dabei im Gleichgewicht mit einer bewussten Anerkennung der materiellen Notwendigkeiten biophysischer Prozesse gehalten werden. Das heißt, zum Beispiel, dass Wasser einerseits als begrenzt vorhandener Stoff angesehen wird, der die städtischen Prozesse ‘schmiert’, während es andererseits als Produkt und Objekt der Begehrlichkeit kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse wahrgenommen wird, die ihm unterschiedliche Bedeutungen zumessen.
dérive: Das Konzept der Nachhaltigkeit, das 1987 im so genannten Brundtlandt-Report den Begriff der Entwicklung als soziale, ökonomische und ökologische Einheit definierte, bot von Anfang an Anlass für Kritik. Können Sie diesem Konzept der »Nachhaltigkeit« noch etwas positives abgewinnen oder dient es ausschließlich dazu, ökonomische Interessen zu verschleiern?
Keil: Die Verschleierungsthese hat mir nie eingeleuchtet, schon weil es ja im Text von Brundtlandt von Anfang an völlig klar war, dass es hier um wirtschaftliches Wachstum gehen sollte. Es handelte sich doch hier um einen Begriff, der ökologische Modernisierung vor allem in der Welt der Entwicklungsländer schmackhaft machen sollte. Die ökonomischen Interessen waren da immer vorrangig. Diese Erkenntnis heißt jedoch meines Erachtens nicht, dass man sich nun zynisch von der ganzen Debatte um ‘sustainability’ abwenden sollte. Im Gegenteil, die Unklarheit und Schwammigkeit des Begriffes in Bezug auf den ökologischen und sozialen Inhalt der Modernisierung ermöglichte ja gerade, dass sich auch emanzipatorische Projekte mit diesem Herrschaftsbegriff artikulieren konnten. Von einem rotgrünen politischen Standpunkt aus ist es ja ziemlich klar, von welchen Interpretationen von Nachhaltigkeit man sich besser fern hält. Es gibt da natürlich ganz lächerliche Versuche der Instrumentalisierung der ganzen Debatte zur ungeschminkten Kapitalakkumulation.
dérive: Was sind für Sie die Unterschiede an die methodische Herangehensweise zum Thema »Stadtökologie« in Europa und in Nordamerika? Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Unterschieden aus Ihrer Sicht?
Keil: Das ist schwer zu beantworten, ohne eine Karikatur zu produzieren. Was ich sage, müsste also länger formuliert und ausdifferenziert werden. Was sind die großen Unterschiede? Die nordamerikanischen Städte und ihre BewohnerInnen sind noch mehr automobil ausgerichtet als die europäischen. Das Einfamilienhaus im Familienbesitz spielt eine größere Rolle und die Suburbanisierung ist flächenfressend wie es in Europa kaum möglich ist (sprawl). Auch sind die nordamerikanischen Städte - vor allem die in den USA - viel mehr von historischen und aktuellen Umweltungerechtigkeiten (environmental racism) geprägt, die nachhaltige stadtökologische Überlegungen immer sofort vor die ungelösten sozialen Probleme stellt. Den meisten amerikanischen Städten fehlt das kritische, umweltbewusste StadtbürgerInnentum, das in vielen europäischen Städten den Kern der stadtökologischen Initiativen bildet (und die Grünen wählt). In meinem Wohnort Toronto ist das übrigens eher wie in Europa, aber hier fängt das genannte Differenzierungsbedürfnis an. Umgekehrt scheint es mir so, dass die Abwesenheit dieses links-liberal-grünen Klientels in den nordamerikanischen Städten auch dazu geführt hat, dass in den letzten 10 Jahren viele Umweltprobleme dort von Menschen thematisiert wurden, die aufgrund von Rassismus und Klassenunterdrückung eine sozialkritischere Herangehensweise an ‘Natur’ haben, als dies im ‘postmateriellen’ Diskurs der Mittelklasseumweltbewegung oft der Fall ist.
dérive: Sind stadtökologische Ansätze ein Luxus den sich hauptsächlich Industrieländer leisten oder gibt es auch Ansätze in Ländern der Dritten Welt?
Keil: Nein, das denke ich überhaupt nicht. Ich bin zwar kein Spezialist für Stadtökologie im globalen Süden, doch scheint es mir, dass in Städten wir Porto Alegre, Curitiba, Mexico City und anderswo interessante progressive stadtökologische Aktivitäten entstanden sind, die dann wiederum oft zum Fanal für die städtische Umweltbewegung im Norden wurden. Es ist natürlich klar, dass die soziale Frage in weniger reichen Ländern direkter mit Umweltfragen gekoppelt ist. Gerade das macht die Umweltfragen aber dort brisant. Und es muss auch eindeutig das oft gehörte Argument bekämpft werden, normales Wachstum (also Verwestlichung) der Städte Afrikas, Asiens und Lateinamerikas würde die soziale Frage lösen und für die Lösung von Umweltproblemen die notwendigen Mittel bereitstellen. Das ist eine sehr stark verkürzte und gefährliche Sichtweise, die weiterhin von einer Entwicklungsteleologie ausgeht, die die Umweltkatastrophen der Vergangenheit ja mitproduziert hat. Ich würde gar behaupten, dass viele der praktischen, ethischen und begrifflichen Neuerungen in der Stadtökologie der nächsten Generation aus dem globalen Süden kommen werden.
dérive: Welche Perspektiven sehen Sie für die zukünftige Entwicklung dieses Wissenschaftzweiges?
Keil: Da kommt es darauf an, ob es den kritischen Kräften in der Wissenschaftspraxis gelingt, die technokratischen Ansätze in unseren Fakultäten mit innovativen sozialtheoretischen Ansätzen zu konterkarieren. Kritische Umweltwissenschaft wird zum Großteil in der Zukunft städtische Wissenschaft sein. Nicht nur lebt mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung nun in Städten. Hier finden auch die entscheidenden Entwicklungen in Hinblick auf die Entwicklung neuer sozial-ökologischer Allianzen statt. Dieser Trend muss dringend von einer kritischen Stadtökologie an den Hochschulen, in den Schulen, in den Betrieben, städtischen Verwaltungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen etc. unterstützt werden.
dérive: Wie beurteilen Sie die Privatisierung kommunalen Eigentums, die zunehmend auch in europäischen Städten von neoliberaler Seite gefordert wird, im Zusammenhang mit einer ökologischen Stadtentwicklung?
Keil: Ich bin einer Privatisierung und Vermarktung kommunalen Eigentums gänzlich feindlich gesinnt. Von der kommunalen Bewirtschaftung unserer lebensnotwendigen Dienste wie Wasser, Energie, Transit, etc. profitieren die städtischen Bevölkerungen. Die Privatisierung dient vor allem den Eignern der privatisierten Betriebe. Nehmen wir die englische Wasserversorgung als schlechtes Beispiel, wo Preissteigerungen und Qualitätsminderungen oft eine Folge der Privatisierung und Monetarisierung von Wasser waren. Oder erinnern wir uns umgekehrt an das Beharren der Stadt Los Angeles, ihre Energieversorgung in kommunaler Hand zu belassen, anstatt an der Privatisierung und Deregulierung der Industrie in Kalifornien teilzunehmen. Während die Strompreise außerhalb von Los Angeles in die Höhe schnellten und Stromausfälle im ganzen Staat zu verzeichnen sind, geben die Stadtwerke von Los Angeles ihren Strom weiterhin zum Selbstkostenpreis an die Haushalte ab. Dieser Preis entspricht etwa einem Viertel des gegenwärtig gängigen Marktpreises im Staat Kalifornien.
dérive: Kann man in der Stadtökologie eine Verschiebung der Prioritäten in verschiedenen Ländern beobachten? Gab und gibt es Ihrer Ansicht nach »Modethemen« (in den 70ern die SO2 Belastung, Anfang der 90er Müll, Ozon) und wenn ja, wie hängen diese mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen?
Keil: Ja, solche Moden und Wellen gibt es natürlich, aber mir fehlt hier der globale Überblick. In Toronto sind gerade Müll und Wasser die brennenden Themen. Das kann sich aber schnell ändern, falls der Sommer uns viele Smogtage bescheren sollte. Dann wäre die Aufmerksamkeit wieder eher auf der Frage der Luftverschmutzung. Wenn es hier gesellschaftliche Trends gibt, dann gilt für Nordamerika sicherlich, dass in der Zukunft Themen der Umweltgerechtigkeit besondere Bedeutung zukommen wird. Es hat sich hier im Gegensatz zu den Anfangstagen der jüngeren Umweltbewegung inzwischen deutlich die Auffassung durchgesetzt, dass wir StädterInnen nicht unbedingt alle in einem Boot sitzen, was Umweltprobleme anbelangt. Becks These von der Risikogesellschaft, in der Umweltrisiken eher zufällig auf die ganze Gesellschaft verteilt und individualisiert werden, lässt sich hier kaum halten. Vielmehr werden Umweltprobleme durch den (ungleichen) städtischen Prozess ungleich verteilt. Das Risiko ist für manche Gruppen, Stadtviertel etc. größer als für andere. In dieser Erkenntnis liegt meines Erachtens nach das große Verdienst der Stadtökologie des letzten Jahrzehnts. Ob der aus dieser Einsicht folgende gesellschaftliche Trend zu mehr Umweltgerechtigkeit nur eine Modeerscheinung ist oder die Stadtökologie dauerhaft prägen wird, lässt sich noch nicht beantworten.
dérive: Wir danken für das Interview.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Daniela Hohenwallner
Roger Keil ist Direktor des City Instituts und Professor an der Faculty of Environmental Studies an der York University, Toronto. Seine aktuelle Forschung beschäftigt sich mit globalem Suburbanismus.