Ideologische Implikationen urbaner Visionen
»Oh, my Complex City. Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt«, Ausstellung im Württembergischen Kunstverein, StuttgartDas Wort »Angst« prangt seit Mitte Mai in gelber Schreibschrift auf der Fassade der 1961 erbauten Ausstellungshalle des Württembergischen Kunstvereins (siehe Abbildung). Die Neonarbeit des Düsseldorfer Künstlers Ludger Gerdes, die seit den 1990er Jahren das Rathaus der nordrheinwestfälischen Stadt Marl ziert, wurde für die Dauer der Ausstellung Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt von den beiden DirektorInnen Iris Dressler und Hans Christ nach Stuttgart disloziiert.
Die Kontextverschiebung der Marler Neonarbeit eröffnet neue Kommentarebenen und schafft räumliche Beziehungen, beispielsweise zum Innenhof des Württembergischen Kunstvereins, in
dem seit den 1980er Jahren die heftig umstrittene »BewusstseinsSkulptur« Stammheim (1984) von Olaf Metzel installiert ist, sowie zum Hauptbahnhof und Schlossgarten, die inzwischen zum dystopischen Monument neoliberaler Raumplanung geworden sind. Eine Referenz zur lokalen Situation bietet ebenfalls die Ausstellung, die als begehbares Stadtmodell funktioniert. Der Parcours führt vorbei an utopischen und realisierten Stadtprojekten, an Theoriedisplays und Bildarchiven, in denen Repräsentationsformen, Umwertungen und Krisen der Stadt von den 1930er Jahren bis heute thematisiert werden. Dazu werden künstlerische Beiträge, die sich mit städtebaulichen, sozialen, politischen und ökonomischen Konfliktfeldern der Stadt befassen, sowie Material aus der Pop-, Protest- und Subkultur und Rekonstruktionen von Ausstellungen der 1970er Jahre in Beziehung gesetzt.
Im Eingangsbereich enthüllt der Berliner Fotograf Martin Eberle mit der fotografischen Abhandlung Pyongyangstudies II (2007 – 2012) die Quellen, aus denen sich die Stadtplanung der nordkoreanischen Metropole Pjöngjang speist. Der Aufbau der nordkoreanischen Hauptstadt beruht im Wesentlichen auf 25 Schautafeln zur Weltarchitektur, die in der staatlichen Akademie der Architektur seit der Regierungszeit von Kim Jong Il (1994 – 2011) ausgestellt sind. In der nach dem postmodernen Copy-Cut-Paste-Verfahren gestalteten Hauptstadt wurden die Ikonen der Weltarchitektur nicht wegen ihrer architektonischen Qualität, sondern allein aufgrund ihrer Ikonizität ausgesucht.
Die kuriose Akkumulation von Architekturikonen, die von Monumenten der Megalithkultur bis zum Präsidentenpalast von Oscar Niemeyer in Brasilia (1959) reichen, steht exemplarisch für den Versuch, Architektur als subtiles Instrument der Erziehung und Disziplinierung einzusetzen und hegemoniale Machtansprüche durch Stadtplanung zu zementieren. Historische Kontinuitäten der Verbindung von Stadtplanung, Politik und Ökonomie lassen sich von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart verfolgen. Als Beispiel für die gescheiterte Allianz dieser Interessen steht das ambitionierte Sanierungsprojekt PruittIgoe im Norden von St. Louis (USA). Dieses Wohnquartier, das in den 1950er Jahren mit Geldern des National Housing Act finanziert und vom japanischen Architekten Minoru Yamasaki (1912–1986) als getrennte Baukomplexe geplant wurde, ist ein Beispiel für die US-amerikanische Siedlungs- und Rassentrennungspolitik, die in St. Louis mit der spektakulären Sprengung der Siedlung 1972 endete.
Einen weiteren Bereich nehmen die visionären und urbanismuskritischen Debatten der 1970er Jahre ein, die mit Lucius Burckhardts Fragestellung »Wer plant die Planung« (1974) einsetzten. Einen Rückgriff auf die Architektur-, Gender- und Kunstdiskurse der 1970er Jahre bringt Yvonne P. Doderers und Ute Meta Bauers mehrfarbiges Bildstecksystem Raumstruktur (1994 — 1995) zur Geltung.
Während die Manifeste und Planungen der Moderne noch die Funktionsprobleme der Städte zu lösen versuchten, werden die Planungsvorhaben in der spätkapitalistischen Stadt überwiegend von ökonomischen und privatwirtschaftlichen Interessen bestimmt. Zum Sinnbild der nach marktwirtschaftlichen Kriterien operierenden Stadt wurde in den 1990er Jahren das Iconic Building, das der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks als »enigmatic signifier« charakterisierte. Dem Ausverkauf und Verschwinden des differenziellen urbanen Raums setzt die Ausstellung andere Formen der Raumaneignung entgegen, die sich in künstlerischen Praktiken und gegenhegemonialen Strategien äußern. Der Slogan »Democraticemos La Democracia« (Demokratisieren wir die Demokratie), den Daniel Garcia Andujar 2011 auf einem Werbebanner im Luftraum Barcelonas vor dem emblematischen Torre Agbar platzierte, kann als deutliches Plädoyer für mehr gesellschaftliche Partizipation und Solidarität gelesen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel für den Widerstand gegen das Cleaning-up kompletter Stadtviertel liefert John Smiths’ Videofilm Blight (1994 — 1996), in dem er den aussichtslosen Kampf der BewohnerInnen gegen den Abriss einer Wohnsiedlung in East London begleitete. Die Montage aus Bildern, Originaltönen und musikalischen Elementen wird zur Metapher für Trauer und Verlust eines historisch gewachsenen Lebensumfeldes. Subversiver agiert hingegen der Stuttgarter Künstler Pablo Wendel, der im Außenbereich des Württembergischen Kunstvereins mit einem Stelzenbau und dem Kunststrom erzeugenden Firmenlabel Performance Electrics das Machtmonopol der Energiekonzerne zu unterlaufen versucht. Wendels künstlerisches Selbstversorgungssystem beruht auf einer Kunststrom-Sammelstelle, einer Gruppe von Strom-Phreakern (Varta Bande) und einem Verteilungssystem, an dem man sich über Energiepartnerschaften beteiligen kann.
Mit der Videoperformance New Town Ghost (2005), in der eine Sängerin und
ein Schlagzeuger auf einem Pickup durch die Straßen von Seoul fahren, klagt die Koreanerin Minouk Lim den Verlust von Tradition und städtischen Mikrostrukturen an, die durch die Bautätigkeit der New Economy verloren gingen. Der (Hilfe)schrei »Oh, My Complex! New Town Ghost!« verhallt als letzte Instanz der Selbstbehauptung in den Straßenschluchten der koreanischen Megacity.
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Ausstellung
Oh, my Complex City
Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012
Susanne Jakob
Württembergischer Kunstverein