Im Osten viel Neues
Besprechung von »Im Osten - Neue Musik Territorien in Europa, Reportagen aus Ländern im Umbruch« von Christian Scheib und Susanna NiedermayrDie Publikation Im Osten – Neue Musik Territorien in Europa, Reportagen aus Ländern im Umbruch bildet einen exzellenten Überblick über die musikalisch-ästhetischen Umstrukturierungen der Kultur- und Medienlandschaft in Ungarn, Slowenien, Slowakei, Polen, Bulgarien und Kroatien. Exakte Angaben der Webpages und Internetplattformen ermöglichen einen direkten Zugriff auf weiteres Informationsmaterial, das die rege Clubszene miteinschließt. Ausführlich behandelt werden in den Reportagen die sich mangels ökonomischer Mittel neu formierenden Eigeninitiativen, die sich im Spannungsfeld von Internet-Plattformen und dem Erbe kommunistischer KomponistInnenvereinigungen bewegen. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, dass unterschiedliche Tendenzen wie Elektronik, Improvisation und experimentelle Sounds immer vor dem Hintergrund regionaler Vorlieben wie Postrock, Ambient, Abstract Hip Hop und der Yass-Bewegung in Polen oder der Techno-Szene in der Slowakei differenziert verhandelt werden. Nun ergeben die detaillierten Recherchen vor Ort in einem durch politische Veränderungen und durch Identitätskrisen geschüttelten Europa, dass eine typisch osteuropäische Musikszene nicht existiert.
So ist die Publikation gleichzeitig ein Exkurs darüber, wie sich ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen auf die Musikproduktion auswirken und sich aus den verschiedenen Kunst- und Musikgenres Netzwerke bilden. Freie experimentelle Improvisatoren aus Budapest befinden sich im Austausch mit österreichischen MusikerInnen. Wie sich aus den Überschneidungen mit dem Kunstkontext bereits in den 60er-Jahren ein gewisser Aktionismus entfaltet, äußert sich in den fluxusartigen Performances der Transmusic Company in Bratislava. Als bewährte Methode eignet sich für die direkte Vermittlung lokaler Tendenzen in der Publikation der Originalton der InterviewpartnerInnen.
Der Begriff des Territorialen wird in der Publikation losgelöst von nationalen Tendenzen am Begriff des genius loci festgeschrieben. Es gelingt den AutorInnen Susanna Niedermayr und Christian Scheib herauszuarbeiten, dass bereits vor 1989 kein homogener politisch-bürokratischer Apparat über den Kulturprozessen thronte. Im Wachsen befinden sich jene kulturellen Zentren, welche die Bürde einer Nationalkultur hinter sich zurücklassen und sich dem produktiven Phantasma einer verspäteten Kulturnation zu entziehen vermögen. Der politische Systemwechsel hat die nicht-institutionelle Kultur bzw. die so genannten alternativen Szenen aufatmen lassen und Raum für Eigeninitiativen geschaffen. Als gelungenes Beispiel wird vom Art Hostel in Sofia ein Kulturaustausch mit internationalem Publikum betrieben und dadurch zu einer ökonomischen Belebung der Szene beigetragen. Wie man sich mit Tauschhandel behilft, zeigt sich am Beispiel des kroatischen Musiklabels egooboo.bits, ein Internetlabel bei dem jede Veröffentlichung auf CD gebrannt und nicht nur gegen Geld, sondern gegen Software ausgetauscht werden kann. Dahinter steckt die Strategie, einer kapitalistischen Vereinnahmung durch die westliche Marktwirtschaft entgegenzusteuern. GNU General Public License ist eine Copyright Bestimmung, die durch eine Demokratisierung des Zugriffs eine Umkehrung des Copyright Gedankens bewirkt. Die AutorInnen Susanna Niedermayr und Christian Scheib kratzen an der Oberfläche und lassen durch ihre Recherchen die jeweils kulturpolitische Unterscheidungsmerkmale zutage treten. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich in der Vielfalt regionaler Tendenzen dennoch herausarbeiten: Es mangelt an Musikerinnen. Zu den wenigen Frauen im Business zählen in der polnischen Szene die Komponistinnen Agata Zubel und Kartazyna Glowicka, die mit ihrer rabiaten Frauenpower das Tonbandstück Wild Women Voices inszeniert.
Die chronologische Abfolge der Lektüre gleicht einer Nachbereisung und es empfiehlt sich, die Publikation trotz seiner Untergliederung in territoriale Abschnitte vom Anfang bis zum Ende zu lesen.
Ursula Maria Probst