Johannes Bretschneider

Johannes Bretschneider forscht und lehrt am Forschungsbereich Städtebau der TU Wien.


Architekt:innen haben es nicht einfach. Bis sie wirtschaftlichen Erfolg haben und öffentliche Anerkennung erfahren, liegen zumeist Jahrzehnte harter Arbeit hinter ihnen. Viele setzen sich – wenn überhaupt – erst im hohen Alter zur Ruhe.
        Auch die pakistanische Architektin Yasmeen Lari ist mit 82 Jahren noch aktiv. Zur Eröffnung der Ausstellung Yasmeen Lari – Architecture for the Future im Az W persönlich angereist, wirkt sie so, als habe sie auch weiterhin viel zu tun. Nicht, weil sie sich in Form von Kunstmuseen und Konzernzentralen selbst ein Denkmal setzen müsste. Im Gegensatz zu anderen ›Stararchitekt:innen‹ ist ihre Großbaustelle eine soziale: seit 2005 setzt sie sich unermüdlich dafür ein, der ärmsten Bevölkerungsschicht Pakistans, eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder der Erde, sicheren und leistbaren Lebensraum unter Anwendung dekolonisierender und selbstemanzipatorischer Praktiken zur Verfügung zu stellen. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe ist selbsterklärend und klingt in jedem ihrer Worte an. Die Notwendigkeit zu handeln brachte sie Anfang des neuen Jahrtausends auch dazu, ihr Büro wiederzueröffnen, nachdem sie sich eigentlich bereits zur Ruhe gesetzt hatte. Seitdem richtet sie den Blick insbesondere auch auf die Gestaltung und Schaffung sicherer Lebensräume für Frauen und ihre Bedürfnisse in einer stark männlich geprägten Gesellschaftsstruktur.
        Das gelingt ihr in eindrucksvoller Weise. Nach schweren Überschwemmungen in der pakistanischen Sindh-Provinz im Jahr 2010 wurden beispielsweise 40.000 flutresistente Häuser in Selbstbauweise errichtet. Dies geschah im Rahmen eines von Lari initiierten und geleiteten Hilfsprogramms. Solche Zahlen verweisen auf die Möglichkeiten, über die Architekt:innen dank ihrer Ausbildung verfügen. Vorausgesetzt, sie selbst können die Initiative zum Handeln ergreifen und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weitergeben, ohne sie als gewinnbringende Dienstleistung verkaufen zu müssen. Anfang Mai wurde Yasmeen Lari für ihr Lebenswerk mit der RIBA Gold Medal 2023 ausgezeichnet. Auch das gehört eben zur Laufbahn vieler Architekt:innen: gesellschaftliche Würdigung ihrer Praxis kommt, wenn überhaupt, erst sehr spät. Im Gegensatz zu anderen Bereichen macht Laris Werdegang an dieser Stelle keine Ausnahme.
        Die von Elke Krasny, Angelika Fitz und Mavi Mazhar gemeinsam kuratierte Schau im Az W legt den Schwerpunkt vor allem auf das soziale Engagement Laris, betont damit die gesellschaftliche Verantwortung, in der Architekt:innen stehen, und zeigt, was entstehen kann, wenn sie diese Rolle ernst nehmen. Als klassische Monografie aufgebaut, verdeutlicht sie: von Laris Denken und Handeln könnten sich westliche Gesellschaften und Architekt:innen angesichts der Klimakatastrophe einiges abschauen. Die in neun Abschnitte unterteilte Ausstellung gibt aber auch einen Überblick über ihr Gesamtwerk, das neben Entwürfen und Realisierungen einfacher katastrophenresistenter Bambushütten auch städtebauliche Umsetzungen von sozialen Wohnquartieren und ikonische Bankgebäude und Konzernzentralen umfasst.
        Ihr gestalterisches Handwerk beherrschte Lari von Beginn an, wie eine brutalistische Villa von 1973 mit offenem Grundriss und weit auskragender Stahlbetonkonstruktion beweist. Laris eigenes Wohnhaus in Karachi, in dem auch ihr Büro untergebracht war, bildet den Auftakt der Schau. Ungewöhnlich ist aber die Reihenfolge, in der sie ihre Projekte realisieren konnte und deren Chronologie auch die Ausstellung folgt: zu Beginn ihrer Karriere plant und realisiert sie modernistische Großprojekte aus Stahl und Beton und beschäftigt sich gegen Ende hin mit vernakulären Architekturen aus nachwachsenden Baustoffen. Laris Werdegang stellt mit seinem Verlauf entgegen der üblichen Karrierelogik die herrschende Vorstellung von einer ›klassischen‹ Architekturlaufbahn in Frage. Wie sie im Interview im umfangreichen und informativen Begleitkatalog diesen Weg schildert, klingt es fast folgerichtig. Dieser führte von ihrer ›Stararchitektenphase‹ über die Auseinandersetzung mit Pakistans kolonialem architektonischen Erbe und Bautraditionen hin zur Entscheidung, als humanitäre Architektin in der Katastrophenhilfe die globale Praxis vieler Hilfsorganisationen anzuzweifeln. Anstatt einer Behelfsarchitektur aus Stahl und Wellblech schlug sie vor, mit vor Ort verfügbaren Materialien und einfachsten Konstruktionstechniken zu arbeiten, die leicht reproduzierbar sind, in großer Masse ihre Wirkung entfalten und Bestand haben, weil sie katastrophenresistent errichtet wurden. Der Grundgedanke der Schlichtheit spiegelt sich übrigens auch in der gut gemachten Ausstellungsarchitektur wider. Sämtliche Elemente wurden aus Vierkanthölzern mit immer gleichem Querschnitt und leicht demontierbaren Verbindungsdetails entworfen und umgesetzt.
        So einleuchtend die beschriebene Entwicklung aus Laris Mund klingt, in der Praxis wird diese wohl eher von wenigen Kolleg:innen vollzogen. Vor allem das macht sie aber als Architektin so interessant. Das große Verdienst der Ausstellung ist der Hinweis darauf, dass privilegierte Menschen, zu denen auch Lari gehört, die Wahl haben, wie sie mit ihren Privilegien umgehen und für welchen Zweck sie sie einsetzen wollen.
        Unmittelbar nach ihrer Ausbildung in Oxford und Rückkehr nach Pakistan 1964 erhielt Lari aufgrund der familiären Stellung bereits Aufträge internationaler Firmen und staatlicher Institutionen. Auftragsbasiertes Arbeiten war also auch in ihrem Büro Lari Associates immer an der Tagesordnung. Außerordentlich früh konnte sie bereits großmaßstäbliche Projekte planen und realisieren. Zur Einsicht, dass sie als im Westen ausgebildete Architektin umdenken müsse, kam sie aber bereits in dieser Frühphase, als ihr klar wurde, wie wenig sie über das erst kürzlich unabhängig gewordene Pakistan und seine Vergangenheit wusste. Im langwierigen Prozess des ›Relearning‹, also der Vergegenwärtigung, selbst Teil kolonialer Gesellschaftsstruktur zu sein, versuchte sie die baukulturellen Errungenschaften der islamischen Architektur ihres Landes zu verstehen, wertzuschätzen und fortzuführen. Umgekehrt begann sie westlich-modernistische Fortschrittslogik in Frage zu stellen. Dabei halfen ihr der Einsatz im Denkmalschutz, unter anderem als Mitbegründerin der Heritage Foundation of Pakistan und ihrer Tätigkeit für die UNESCO.
        Laris vollzogene Wandlung von der Stararchitektin zur Klimaaktivistin zeigt sich im Zero Carbon Cultural Centre in Makli eindrücklich anhand gelebter (Architektur-)Praxis. An diesem Ort verdichten sich alle Elemente ihrer Philosophie rund um die Zahl Null: kein CO2-Ausstoß, geringe Kosten, kein Abfall. In der aus natürlichen Materialien errichteten Anlage spielt die anschauliche Vermittlung von Praxiswissen die zentrale Rolle. Die Verwendung von Bambus, Lehm und Kalk bildet die Gemeinsamkeit aller Entwürfe, Konstruktionen und Prototypen, die gemeinsam einen kleinen Mikrokosmos mit großer Wirkungsmacht bilden. Eine zentrale Halle aus Bambus dient dem Wissenstransfer: hier werden für alle offene Kurse über erdbeben- und flutresistente low-tech Konstruktionsmethoden und Selbstbau abgehalten. Eine Form des ›Empowerments‹, das sich auch in 
Laris YouTube-Kanal fortsetzt, auf dem sie in kurzen Videos ihr Wissen teilt und einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich macht. Die Strahlkraft des Zero Carbon Cultural Centre (ZCCC) reicht mittlerweile bis in die Stadt hinein: im historischen Zentrum Karachis wurde unlängst eine erste Fußgängerzone nach dem Schwammstadtprinzip entsiegelt, umgebaut und begrünt. Dabei kamen neben aus Bambus konstruierten Plattformen auch im ZCCC handgefertigte Pflastersteine zum Einsatz.
        Mit der Ausstellung rückt das Az W das Schaffen einer Architektin ins Schlaglicht, das hohe Aufmerksamkeit verdient hat. Die Kuratorinnen haben über mehrere Jahre mit Ausdauer in zahlreichen Interviews und Vorortrecherchen in Pakistan diesen Schatz gehoben und für eine breite Zielgruppe aufbereitet. Nicht nur für Planer:innen ist die Ausstellung genau dort am gelungensten, wo sie das Hinterfragen des Berufsverständnisses ermöglicht und Handlungsspielräume für eine Postwachstumsgesellschaft aufzeigt. Ob der recht plakativ an die Wand geworfene Slogan »We have to rethink everything and we have to do it now« dem Inhalt der differenziert aufbereiteten Schau und eben auch auf Traditionen aufbauenden Denkweise Laris gerecht wird, ließe sich diskutieren.
        Gegenüber dieser Wand läuft auf einem kleinen Monitor ein Film. Darin ist eine der erdbebenresistenten Hütten auf einem Rütteltisch zu sehen, wie sie den Erschütterungen eines simulierten starken Bebens standhält. Laris Bauten und dem Einfluss ihres Wirkens sei dieses Standhalten gewünscht. Der im hiesigen Bausektor vorherrschenden, scheinbar unerschütterlichen Denkweise würde vor dem Hintergrund einer dringend notwendigen Bauwende ein solch kräftiges Beben und der ein oder andere Einsturz womöglich guttun. Die Ausstellung und Laris Praxis sind im ermüdend festgefahrenen Wachstumsdiskurs zum Durchrütteln gut zu gebrauchen.


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