Bernadette Wolbring

Bernadette Wolbring lebt und arbeitet als Künstlerin in London, Stuttgart und München.


Fiktion und Realität gleichen sich immer mehr aneinander an. Die Reißbrettstadt Celebration zum Beispiel ist so virtuell wie eine reale Stadt nur sein kann. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, die dort zu fließen beginnen, sind schon seit einiger Zeit Thema in Theorie und selbstreflexiver Kunst. Filmregisseure wie David Lynch, Jacques Rivette, Abel Ferrara und David Cronenberg haben diese Fragestellung wiederholt bearbeitet. Das Reich der bewegten Bilder ist für sie die passende Plattform, auf der sie Kunst und Leben ständig vermengen. Sie treiben dort ein vielschichtiges, selbstreflexives Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen. Ihre Filme handeln oft vom Theater oder von SchauspielerInnen, die vorgeben, TheaterschauspielerInnen zu sein. In diesem Spiel mit Verdoppelung und Doppelgängertum, wo nichts so ist, wie es scheint, und verschiedene Grade der Wirklichkeit ineinander übergehen, verwenden RegisseurInnen oft die Improvisation als Mittel zur Szenenfindung oder lassen die SchauspielerInnen Teile des Drehbuchs schreiben. Auch Künstler wie Christian Jankowsky oder Pierre Huyghe setzen sich mit diesem Thema nicht nur deshalb auseinander, weil es in Medien wie Film und Fotografie sowieso angelegt ist, sondern auch, weil Fiktion heute zunehmend objekthafte Gestalt annimmt. Daher wird es immer schwieriger, die Grenzen der Realität zu bestimmen.

Medial vorgeformte Illusionen

Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Ein sonnengebräunter junger Mann mit akkuratem Seitenscheitel tritt aus der Türe seines weißen Hauses im viktorianischen Stil. Mit strahlendem Lächeln grüßt er seine Nachbarn, ein Paar, das auf seinem perfekt manikürten Rasen vor einem frisch gestrichenen Gartenzaun steht. Die Frau hält ein Kind auf dem Arm und küsst ihren Gatten zum Abschied, der sich auf den Weg zur Arbeit macht. Das hört sich an wie die Anfangsszene eines Hollywoodstreifens. Ist es auch. Die Truman Show. Genauso könnte man sich aber den Tag vorstellen, an dem 1996 die ersten BewohnerInnen nach Celebration zogen, eine kleine Stadt in Florida, die Disney gehört und von Disney erbaut wurde. Die reale Truman Show, eine postmoderne Retrowelt. Sie wurde am Reißbrett im new-traditionalist style für 2.000 EinwohnerInnen entworfen. Friedliche Straßen, flankiert von strahlend weißen Häusern mit Veranden, akkurat geschnittenen Rasenflächen, Parkanlagen mit Seen und Schaukelstühlen am Ufer verwandeln diesen Ort in eine – von den Medien vorgeformte – Illusion.
Im Herbst fallen Plastikblätter vom Himmel, und im Winter garantiert Disney Kunstschnee:[1] eine Simulation, die vorgibt authentisch zu sein. Diese Stadt, in der alles Fassade und optische Illusion ist, wurde auf Sumpfland erbaut, und die Immobilienpreise liegen 30% höher als in vergleichbaren Wohngebieten anderer Teile Floridas. Trotzdem ist die Nachfrage nach diesen Immobilien enorm groß. Die zukünftigen BewohnerInnen der ersten 1.000 fertiggestellten Häuser mussten mit Losverfahren bestimmt werden. Wieso also zieht jemand in dieses überteuerte Reich gefälschter Wirklichkeit? Es muss dort einen Mehrwert, einen immateriellen Wert geben. Schließlich kauft man nicht nur ein bestimmtes Produkt, sondern auch das, was es repräsentiert. Die KäuferInnen müssen Träumen gefolgt sein, als sie sich mit einer Firma einließen, die einen großen Anteil an der Traumfabrik besitzt. Werbung und Hollywoodfilm verbindet ein gemeinsames Symbol- und Wertesystem, sie verwenden denselben semiotischen Kode. Celebrations Marktwert reflektiert diese Werte, die in unserer Gesellschaft ausgehandelt und definiert werden. Das Motiv der KäuferInnen ist somit nicht nur die Flucht vor der rauhen Wirklichkeit, sondern die Suche nach Erfüllung der traumhaften Versprechungen aus der Werbung und anderen artifiziellen Welten. Wir sind umgeben von einer enormen Dichte an visuellem Material. »Egal ob man sich an diese Botschaften erinnert oder sie vergisst, für kurze Zeit nimmt man sie dennoch auf und für einen Moment stimulieren sie die Vorstellungskraft entweder durch Erinnerung oder Erwartung.«[2] Werbung hat in Amerika schon immer eine große Rolle gespielt, und in verschiedenen Anzeigen finden sich immer wieder dieselben Versprechungen. Celebration sieht aus wie die Kopie einer Welt, die in der Werbung und im Hollywoodfilm abgebildet ist. Sie ist ein Simulakrum, eine lebensgroße Reproduktion einer unwirklichen Welt.

Da Städte wie Celebration extrem artifiziell wirken und Filmsets gleichen, wählte Peter Weir die Stadt Seaside, die Celebration sehr ähnelt und im selben Bundesstaat liegt, als Drehort für seinen Film Die Truman Show. Er erzählt die Geschichte des medial vorgegebenen Lebens des Protagonisten Truman Burbank[3], das ohne dessen Wissen gefilmt und im Fernsehen ausgestrahlt wird. Diese fingierte, idealisierte Stadt, in der sich ausschließlich SchauspielerInnen aufhalten, ist durch eine gigantische Kuppel, in der Tag und Nacht, Wind und Regen, Sommer und Winter simuliert werden können, von der Außenwelt abgeschlossen. In ihr fallen andere Charaktere aus der Rolle und halten nicht immer die Vorgaben des Drehbuchs ein. Nur Truman lebt weiter sein Leben, das er als real wahrnimmt, bis er diese fiktionale Welt als das erkennt, was sie wirklich ist.
Wie im Film werden in Celebration die Jahreszeiten künstlich erzeugt. Disney schafft es sogar, den sunbelt state Florida in eine Region mit klimatischen Veränderungen zu verwandeln, in der die Jahreszeiten mit Umzügen gefeiert werden. Und es gibt noch mehr Anlaß zur celebration. Neben dem See sind Schilder aufgestellt, die die SpaziergängerInnen instruieren: »Celebrate style«, »Celebrate life«, »Celebrate taste«. Wir kennen solche Verhaltensanweisungen von Plakatwänden oder aus Filmstudios, wo ähnliche Anweisungen von Zeit zu Zeit hochgehalten werden, damit das Publikum im richtigen Moment applaudiert oder lacht. In Celebration tönt, als Soundtrack für das tägliche Leben, fortwährend Fahrstuhlmusik aus Lautsprechern, die entlang der Straße hinter Büschen versteckt sind.

Die Stadt als Bild

Ein weiteres Phänomen, das wir im Konsumzeitalter bestens kennen, ist eine bestimmte Umgangsform mit Temporalität. Anzeigen und Werbeclips repräsentieren nur ein Standbild oder einen kurzen Zeitabschnitt, eine unbewegliche, eingefrorene Welt. Dasselbe gilt für Celebration. Temporalität wird negiert. Die Zukunft koexistiert mit der Vergangenheit. Kaum etwas verändert sich, und Disney sorgt dafür, dass dies so bleibt. Frühmorgens werden die Straßen – wie im Themenpark – gereinigt, und dadurch sieht Tag für Tag alles noch genauso aus wie am Tag zuvor. Alles bleibt gleich – für immer und ewig. Eine kontinuierliche Gegenwart. Damit sich niemand an dieser Zeitkompression vergeht, lässt die Verwaltung alle BürgerInnen das städtische Regelbuch unterzeichnen. Es beinhaltet Punkte wie Rasenlänge und Fassadenfarbe (alle Weißschattierungen) und schreibt vor, welche Gegenstände auf den Veranden gestattet sind oder welche Autotypen in der Stadt geparkt werden dürfen. Nichts kann am Erscheinungsbild der Stadt verändert werden. Eine motorisierte Patrouille kontrolliert, dass sich alle EinwohnerInnen an diese Vorgaben halten.
An der Planung der Stadt lässt sich ein ähnliches Einfrieren der Zeit festmachen. Es ist auffällig, dass diese utopische Stadt die Zukunft lediglich mit ihrer technischen Ausstattung zelebriert, nicht aber in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Statt fortschrittlich zu sein, greift sie auf die Vergangenheit zurück. In postmoderner Manier werden Teile von Häusern, die aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammen, kopiert und eingefügt. Der New Urbanism geht davon aus, dass man ein kleines Stück Vergangenheit mitsamt deren Werten einfrieren und in die Gegenwart bringen müsse, um diese alten Werte wiedereinzuführen. Auch Celebration wurde in der Annahme gebaut, dass die physische Umgebung Verhaltensmuster bestimmt. Die Vergangenheit wird wie unter einem Schleier konserviert, um das menschliche Verhalten zu verbessern. Die Zeit steht still. Celebration ist der Versuch, einen Ort zu schaffen, an dem Unschuld wiedergefunden werden kann. Es ist das Experiment, die Zukunft mit den Mitteln der Vergangenheit zu planen.
Damit die EinwohnerInnen nur mit Fragmenten der Realität konfrontiert werden, wendet Disney weitere Strategien aus der Werbung an. Der Konzern überreicht seinen Kunden eine gerahmte Welt mit deutlich gekennzeichneten Grenzen zur Außenwelt. Alles, was nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet. Autos müssen auf der Rückseite des Hauses geparkt werden, Supermarktketten sind verboten und die NiedriglohnarbeiterInnen, die für Sauberkeit und Sicherheit sorgen, müssen außerhalb der Stadtgrenze wohnen, da sie sich die Mieten in der Stadt nicht leisten könnten. Dieses »framing«[4] hat dieselbe Wirkung wie die Ränder eines Bildes. Es ist vergleichbar mit dem Blick durch den Sucher einer Kamera, wobei alles ausgelöscht wird, was außerhalb des vorgegebenen Rahmens verdeckt ist. »Alle Bezüge können aufgehoben, jegliche Kontinuität kann unterbrochen werden. Es kommt nur darauf an, den Gegenstand anders zu rahmen.«[5] Disney wählt den Blickwinkel aus einer unendlichen Zahl anderer Blickwinkel aus. Das Augenmerk richtet sich auf etwas Bestimmtes, isoliert einen Ausschnitt vom Ganzen und verdeckt oder löscht alles, was nicht ins Bild passt. 
Die zuvor genannten Merkmale (negierte Temporalität, Rahmung) machen diese visuell wahrgenommene Stadt einem Bild ähnlich. Und vielleicht geht es darüber sogar hinaus. »Ein Bild ist eine Ansicht, die wiedererschaffen oder reproduziert wurde«, schreibt John Berger. »Es ist eine Erscheinung, oder mehrere Erscheinungen, die von dem Ort und der Zeit, an der sie erstmals erschienen sind, losgelöst und konserviert wurden. (...) Bilder dienten ursprünglich dem Heraufbeschwören von Erscheinungen abwesender Dinge.«[6] In diesem Sinne IST Celebration tatsächlich ein Bild.

Das Leben als Produkt

In dem Augenblick, in dem reale Menschen in diese Stadt ziehen und im Simulakrum dauerhaft leben wollen, wird diese visuell wahrgenommene künstliche Stadt noch interessanter. Nicht nur das Erscheinungsbild der Häuser, sondern auch das Benehmen der Menschen in diesem setting ist reine Fassade. Die Menschen, die nach Celebration gezogen sind, wollen beweisen, dass sie ihre Träume verwirklichen können: es ist der Versuch, eine – von Repräsentationen der Medien geschaffene – Traumwelt zu bewohnen. Sie wollen sich selbst und der Außenwelt zeigen, dass dies ein realer Ort ist. Daher stehen sie unter enormem Druck zu schauspielern. Und das nicht nur wegen der Blicke der Öffentlichkeit und Disneys Vorschriften, sondern auch aus persönlichen Interessen. Einige BürgerInnen beispielsweise, die mit der Konstruktion ihrer Häuser unzufrieden waren, organisierten eine Unterschriftenaktion, da gemachte Versprechungen nicht eingehalten wurden. Aber sie sind machtlos. Jede ernst gemeinte Gegenwehr geht nach hinten los, da die Menschen selbst Teil des Unternehmens werden, sobald sie ein Haus in dieser Stadt erwerben. Jeder Versuch, etwas zu verändern, zeigt Unzufriedenheit und mindert somit den Immobilienwert. Das Leben selbst ist zum Produkt geworden. 
Man kann noch einen Schritt weiter gehen. Celebrations Erscheinungsbild ist die Kopie einer Welt, die uns in Werbeanzeigen präsentiert wird. Die Häuser sind genauso Produkte wie die Gegenstände der Werbung. Disney wiederum macht Werbung, um Käufer für diese Kopien zu finden. Zu diesem Zweck werden Kundenbefragungen durchgeführt und zielgruppenorientierte Werbekampagnen gestartet. Folglich repräsentieren die Menschen, die sich in Celebration einkaufen, nicht die durchschnittlichen AmerikanerInnen, sondern nur ein kleines Segment der Bevölkerung: diejenigen, die sich das von Disney beworbene Produkt leisten können. Eine Monokultur, die sich aus Menschen desselben Alters, derselben Gesellschaftsschicht und derselben Einkommensklasse zusammensetzt, sind die KäuferInnen dieser uniformen Häuser, die sich in einheitlichem Abstand entlang ununterscheidbarer Straßen aufreihen. Wie jede andere Firma, die Werbung einsetzt, verfolgt Disney gewisse Interessen. Der Konzern will das andernfalls unbrauchbare Sumpfland gewinnbringen nutzen, das Walt Disney ursprünglich als Baugrund für Disneyland erwarb. Wie bereits erwähnt, sorgt dies für eine enorme Diskrepanz zwischen Versprechen und Erfüllung. Aber die BewohnerInnen halten still. Wie in einem Drehbuch sind ihre Unterhaltungen zu weiten Teilen vorgeschrieben, so als würden sie unwissentlich in die Rolle von SchauspielerInnen schlüpfen. Ein Paragraph im städtischen Regelbuch ist beispielsweise das Verbot »über Moskitos zu meckern«. Schritt für Schritt werden die BewohnerInnen zu Figuren dieser Darbietung für sich selbst und die Aussenwelt. Disney hat dieses Problem der Authentizität schnell erkannt: Um die Illusion als Wirklichkeit zu verpacken und die Schlacht um »Das Wahre«[7] zu gewinnen, entfernte die Firma ihren Namen vom Ortsschild. 
Die EinwohnerInnen von Celebration leben nicht nur in dieser Stadt, sie sehen sich auch selbst auf einer Metaebene beim Leben zu. Ständig reflektieren sie darüber, inwieweit die Erwartungen, die an diesem utopischen Ort haften, mit ihrem gegenwärtigen Leben kongruent sind. Sie sind zugleich TeilnehmerInnen und BeobachterInnen dieser Versuchsanordnung. Wie die Öffentlichkeit das Leben auf den Veranden und öffentlichen Plätzen überwacht, so observieren sich die BewohnerInnen von hinter den Kulissen. Sie sehen sich selbst beim Leben zu, als würden sie fiktionale Charaktere beobachten. Und wieder überschneiden sich Realität und Fiktion.

Fußnoten


  1. Die Beschreibung der Stadt Celebration ist nachzulesen bei: Andrew Ross: The Celebration Chronicles. London: Verso, 2000. ↩︎

  2. »One may remember or forget these messages but briefly one takes them in, and for a moment they stimulate the imagination by way of either memory or expectation.« John Berger: Ways of seeing. Harmondsworth: Penguin, 1972, S. 129. ↩︎

  3. Es ist kaum zufällig, dass Trumans Nachname derselbe ist wie der Name der Stadt, in der die Disneystudios sind. ↩︎

  4. Susan Sonntag: On Photography. Harmondsworth: Penguin, 1979, S. 22. ↩︎

  5. »Anything can be separated, can be made discontinuous, from anything else. All that is necessary is to frame the subject differently.« (ebd.) ↩︎

  6. »An image is a sight which has been recreated or reproduced. It is an appearance, or a set of appearances, which has been detached from the place and time in which it first made its appearance and preserved. (...) Images were first made to conjure up the appearance of something that was absent.« John Berger: Ways of seeing. Harmondsworth: Penguin, 1972, S. 9f. ↩︎

  7. »the real thing«: Dieser Begriff ist eine Anleihe Umberto Ecos bei der Coca-Cola Reklame. Umberto Eco, »Travels in Hyperreality«, in: Faith in Fakes. Travels in Hyperreality. London: Vintage, 1986, S.1-58. ↩︎


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