Ist Wien modern?
Monika Platzer im InterviewMit Monika Platzer, einer der drei KuratorInnen der Ausstellung Mythos Großstadt - Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937 und Mitarbeiterin im Architektur Zentrum Wien, führten André Krammer und Axel Laimer das folgende Interview. Die Ausstellung wird am 18. Juni im Kunstforum eröffnet. Zur Ausstellung gibt es begleitend einen Katalog mit Aufsätzen u.a. von Eve Blau und Friedrich Achleitner.
Mit Monika Platzer, einer der drei KuratorInnen der Ausstellung Mythos Großstadt - Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937 und Mitarbeiterin im Architektur Zentrum Wien, führten André Krammer und Axel Laimer das folgende Interview. Die Ausstellung wird am 18. Juni im Kunstforum eröffnet. Zur Ausstellung gibt es begleitend einen Katalog mit Aufsätzen u.a. von Eve Blau und Friedrich Achleitner.
dérive: Können Sie uns die Entstehungsgeschichte der Ausstellung erläutern?
Platzer: Seit sieben Jahren gibt es dieses Forschungsprojekt. Es wurde von Nordamerika aus initiiert und ging vom Canadian Centre for Architecture (CCA) und dem Getty Research Institute in Los Angeles aus – in Wien fand sich das Ministerium für Unterricht und Kunst als Partner. Das Projekt begann mit einer intensiven im April 1996 abgeschlossenen Forschungsphase, die von Anthony Alofsin geleitet und in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaft in Wien organisiert wurde.
Die grundlegende Idee der Ausstellung ist es, die Stadt – ihre Form, Struktur und Architektur als Schauplatz – in der die gesammelten Kenntnisse, Erinnerungen und Fertigkeiten der multinationalen Gesellschaften zusammenkamen, zu untersuchen. Es schien uns interessant, den soziokulturellen Raum der Stadt zu betrachten. Unterstützt wurden wir in all diesen Städten (Wien, Budapest, Prag, Krakau, Zagreb, L'viv, Ljubljana, Brno, Timișoara, Zlín) von regionalen Forschern und Forscherinnen, die vor Ort die Archive nach Material gesichtet haben. Die Ausstellung ist zweiteilig konzipiert: Einerseits gibt es einen theoretischen Teil (Die Stadt als Form und Idee), der sich mit Stadtplanungskonzepten im Allgemeinen beschäftigt, und einen zweiten Teil (Modernität und Ort), der sich episodisch mit bestimmten Aspekten von spezifischen Städten in Momenten wichtiger architektonischer Innovation und Vitalität auseinandersetzt. Somit steht nicht die Architekturgeschichte der ausgewählten Städte im Vordergrund, sondern ein Aspekt wird fokussiert. Diesen in seiner Signifikanz visuell darzustellen, ist Thema der einzelnen Episoden.
dérive: Wie kam es zur Festlegung des Zeitraums 1890 bis 1937?
Platzer: In den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts begann sich die Stadtplanung als Wissenschaft durchzusetzen. In Wien nimmt die moderne Stadtplanung mit Otto Wagners Generalregulierungsplan von 1892-1893 seinen Anfang. Für das Ende haben wir 1937 festgelegt, das Gründungsdatum von CIAM Ost. (Anm.: CIAM war eine Vereinigung von ArchitektInnen, die bei europaweiten Kongressen Richtlinien für Architektur und Städtebau vorgaben.)
Der vierte CIAM-Kongress – 1933 zum Thema Die funktionelle Stadt – befasste sich mit 33 Städten, darunter Zagreb, Prag und Budapest. Die vergleichende Analyse nach einer einheitlichen Methode (gleicher Maßstab, Anwendung gleicher Zeichen und gleicher Farben, um die gleiche Funktionen sichtbar zu machen) war als erste Etappe für einen künftigen wissenschaftlichen Städtebau gedacht. Gleichzeitig stößt man bei der Auswertung des Materials auf Schwierigkeiten, so unterscheiden sich die Grundbedingungen des Neuen Bauens in Zentraleuropa grundlegend von denen in Westeuropa. 1937 entsteht aus dieser Überzeugung eine osteuropäische Sektion des CIAM (CIAM-Ost), nur wenige Monate bevor Nazi-Deutschland alle diesbezüglichen Bestrebungen zunichtemachen sollte. Dem Begriff der Stadt wird jener der Stadtlandschaft entgegengehalten – die Auflösung der Städte wie sie im großen Maße nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen sollte, nahm hier ihren Ausgangspunkt – der Mythos Großstadt wird ein anderer.
dérive: Können Sie uns einen Einblick in die Gestaltung der Ausstellung geben?
Platzer: Ein wesentlicher Aspekt dieser Ausstellung ist die Ausstellungsarchitektur, mit der Coop-Himmelb(l)au beauftragt war – unter Mitwirkung von sputnic. Es wurde ein Modulsystem aus Stahlrahmen entwickelt, das frei im Raum steht. Die Objekte hängen nicht an der Wand, sondern sind an Seilen, die in den Rahmen eingespannt sind, befestigt. Es gibt keine Schauseite, die Besucher und Besucherinnen sind die Flaneure und Flaneurinnen, die in der Ausstellung herumspazieren, die Stadt durchwandern und an verschiedenen öffentlichen Bereichen verweilen. Videos mit alten Filmen »beleben« die Installation zusätzlich.
dérive: Wo ist die Ausstellung bisher gezeigt worden?
Platzer: Angefangen hat sie in Prag, vor zwei Jahren im Obecní dum. 2000 ist sie im CCA in Montreal gezeigt worden, danach in Los Angeles im J. Paul Getty Museum und jetzt kommt sie direkt nach Wien ans Kunstforum, als vierte und letzte Station.
dérive: Zum Titel Mythos Großstadt: Die Entwicklung der Großstädte begann im 19. Jahrhundert auf der ganzen Welt. Die Städte sind durch die »industrielle Revolution« und das damit verbundene Bevölkerungswachstum quasi explodiert. Hat es irgendwann die Tendenz gegeben, den Blick zu erweitern, über Zentraleuropa hinaus und auch andere europäische Städte hineinzunehmen?
Platzer: Nein, gerade Zentraleuropa ist ja immer links liegen gelassen worden, in die Architekturgeschichte wurden nur ganz wenige Bauten aufgenommen, weil dieser Raum nie als richtungsweisend für eine moderne Architektur angesehen worden ist. Das rote Wien beispielsweise war nicht von moderner Architektur geprägt, aber es war modern und zeitgemäß, was das soziale Umfeld, das für die Bewohner und Bewohnerinnen der Gemeindebauten geschaffen wurde, betrifft. Da geht es auch um die Fragen, die man an Architektur stellt, also nicht nur um eine stilistische oder ästhetische Einordnung.
dérive: Die Monarchie war ein großes Konstrukt aus unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Nationalitäten, eine Idee des 19. Jahrhunderts. Nun zerfiel das ganze Konstrukt in seine Einzelteile. Nationalstaaten waren bestrebt, sich selbst zu präsentieren, und das mithilfe der Architektur. Entweder eignet man sich was an oder greift auf Traditionelles zurück.
Platzer: Als wir mit dem Projekt angefangen haben, waren Tschechien und die Slowakei noch ein Staat, und jetzt gibt es neben einer tschechischen eine slowakische Architekturgeschichte – aber was ist das überhaupt?
Bratislava war früher ein Teil von Ungarn, Ödon Lechner hat dort eine Kirche gebaut, der kommt einerseits in einer slowakischen Architekturgeschichte vor, aber gleichzeitig ist er in der ungarischen Architekturgeschichte vertreten. Aber was sagt uns das über Architektur? Wichtiger ist uns, wie und was die Städte, als kultureller Austragungsort von konkurrierenden sprachlichen, ethnischen, religiösen und nationalen Traditionen und Bestrebungen, architektonisch prägte.
dérive: Gab es damals Konflikte zwischen dem Homogenisierungsdruck der imperialen Macht und lokalen Versuchen von Eigenständigkeit?
Platzer: Ja, es gab auch in der Architektur die Suche nach einer Universalsprache, gleichzeitig tritt aber immer eine Transformierung durch spezifische historische Einflüsse auf – regionale oder politische. Viele Dinge passierten parallel, aber sie kamen unglaublich vielschichtig und unterschiedlich zum Ausdruck.
dérive: Wie haben Sie die Parallelen zum Globalisierungsdiskurs gesehen? Globale Muster gegenüber lokalen Mustern, wie greifen die ineinander?
Platzer: In diesem Zusammenhang finde ich es interessant, dass die Ausstellung in L.A. sehr gut angekommen ist. Die Amerikaner und Amerikanerinnen sehen jetzt auf einmal Gemeinsamkeiten mit dem zentraleuropäischen Modell einer Region, deren urbane Gesellschaft sich wie sie aus heterogenen Gruppen zusammensetzt. Ob und wie der heutige Diskurs über die räumlichen Konsequenzen der Globalisierung mit den konzeptuellen Vorschlägen von damals in Verbindung steht, kann ich nicht eindeutig beantworten.
dérive: Sie zeigen Entwicklungslinien von der Großstadttheorie von Otto Wagner über die Großstadtvisionen von Ludwig Hilbersheimer bis hin zu CIAM und dem kommunalen Wohnbau Wiens, einen Rückgriff auf die bürgerliche Stadt. Was konnte die Stadt des 19. Jahrhunderts und inwieweit ist sie heute noch interessant?
Platzer: Uns ging es um ein Aufzeigen unterschiedlicher Lösungsansätze: Es gab das rote Wien und gleichzeitig die Prager Mitglieder der radikalen Linksfront, die die historisch gewachsene Stadt radikal verändern wollten. In Wien hingegen fügte man die Superblocks in die bestehende Stadtstruktur ein, somit entstanden keine fixierten statischen urbanen Formen, sondern ein komplexes räumliches System zwischen der historischen Stadt und den neuen Eingriffen. Das Wohnmietshaus mit Geschäftszonen, als Prototyp eines multifunktionalen Moduls innerhalb eines städtischen Gefüges hat in zentraleuropäischen Städten sehr gut funktioniert und funktioniert jetzt immer noch im Gegensatz zu manchen monofunktionalen Satellitenstädten in Deutschland oder in Prag.
dérive: Die Großstadt Wien funktionierte damals als Melting Pot. Gleichzeitig beschreibt Eve Blau im Katalog, wie die Landbevölkerung in die Großstadt einströmte und sich einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt sah, was dazu führte, dass man als Reaktion und Schutzmechanismus eine Identität für sich konstruierte. Die FPÖ stellt gerade einen Antrag im Parlament, wo es darum geht, dass MigrantInnen einen Sprachkurs absolvieren und Landeskunde lernen müssen, um keine Nachteile zu erleiden. Es gibt anscheinend bis heute Parallelen?
Platzer: Wien war in der Monarchie eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen. Wagner plante für die unbegrenzte Großstadt und das war damals nichts Erschreckendes. Heute gibt es Ängste davor, von Arbeitskräften aus dem Osten »überrannt« zu werden. Wien war im Vergleich zu Berlin, was die Modernisierung und die Industrialisierung anbelangt, immer »rückständig« – wir haben ja bis heute den Anschluss nicht geschafft. Prag war uns in den 20er- und 30er-Jahren in der Architektur voraus. Es hatte mehr Kontakt zu Berlin und besaß z.B. interessantere Zeitschriften. Da hat es sich abgespielt, und wenn wir nicht aufpassen, verschlafen wir das wieder, daher sollten wir Sprachkurse besuchen.
dérive: Gab es die Überlegung, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder einen Blick zurück auf die gemeinsame Geschichte zu werfen und diese historischen Zusammenhänge wieder aufzuwerten?
Platzer: Die Idee zur Ausstellung kam ja aus Nordamerika. Aus deren Blickwinkel erscheint Zentraleuropa und dessen Vielschichtigkeit und Vielsprachigkeit besonders interessant.
dérive: Haben sie auch die Vorbildwirkung von Städten aufeinander untersucht?
Patzer: In der Vergangenheit haben sich Lemberg oder Zagreb an Wien orientiert und wir orientieren uns heute auch an Metropolen wie London und Paris. In diesen Städten gab und gibt es zwei große Ausstellungen, bei denen Großstädte der ganzen Welt Thema waren – nicht nur europäische, sondern auch amerikanische und asiatische Großstädte. Es war uns ein Anliegen mit dieser Ausstellung auf eine Region aufmerksam zu machen, die urbane Konzepte hervorbrachte, die für unser heutiges Denken über Stadt wieder aktuell sind.
Ausstellung: 19.6 - 26. 8. 01, Kunstforum Bank Austria, Wien Katalog erschienen im Prestel Verlag 260 S., ATS 450,-
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.
Axel Laimer
Monika Platzer ist Kuratorin und Mitarbeiterin des Architekturzentrum Wien.