Jüdische Spuren im Augarten
Achtzig Prozent der 200.000 in Österreich lebenden Juden und Jüdinnen wohnten 1938 in Wien. Nicht wenige davon hatte der starke Antisemitismus am Land, sowie die zahlreichen Pogrome in Osteuropa schon vor der NS-Zeit in die Anonymität versprechende Großstadt getrieben. Bevor die Nazis die Macht übernahmen, war Wien eine der reichsten jüdischen Gemeinden Europas. Eine Gemeinde, deren Wohlstand auch an Hand der hunderten jüdischen Sozial- und Fürsorgeeinrichtungen, die bis in den März 1938 in ganz Wien existierten, sichtbar wurde. Speziell aber der zweite Wiener Gemeindebezirk, die Leopoldstadt – einst umgangssprachlich auch »Mazzesinsel« genannt – avancierte zum Zentrum jüdischen Lebens von 1624 bis heute, mit dem Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit.
Auch der Augarten war wichtiger Bestandteil dieses jüdischen Lebens. Schon zu Beginn des Jahres 1913 kaufte der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus dem Privatbesitz Kaiser Franz Josefs eine große, die ganze Brigittenauer – also von der Innenstadt aus betrachtet entfernt liegende – Seite des Augarten einnehmende Wiesenfläche zwecks Errichtung eines jüdischen Kinderspitals. Verzögerungen bei der Projektplanung und schlussendlich der Beginn des 1. Weltkriegs brachten dieses Projekt jedoch zu Fall. So wurde gegen Ende des Krieges, mit den verblieben finanziellen Mitteln, an einer Ecke des Areals ein Kinderambulatorium errichtet. Im Mai 1918 wurde das Ambulatorium in der Rauscherstraße 16, dem heutigen 20. Gemeindebezirk, schlussendlich eröffnet.
Die sehr ausgedehnte, mitten im Grünen gelegene Wiesenfläche blieb jedoch weitgehend unbenützt. Auf Anregung des Leiters des Ambulatoriums, Prof. Dr. Julius Zappart, wurde im Folgenden eine Holzbaracke aus Kriegszeiten erworben, mit einer sonnenseitig gelegenen Holzterrasse versehen und neben dem Ambulatoriumsgebäude aufgestellt. Im Sommer 1920 wurde diese Liegehalle zum ersten Mal von 29 lungenkranken Kindern bezogen und fortan während der Sommermonate für eine Sonnenkur genutzt. Da die Kosten des Betriebes in erster Linie die Kultusgemeinde trug, und die Ergebnisse der Kur aus medizinischer Sicht vielversprechend waren, suchte die Anstaltsleitung finanzkräftige SpenderInnen für den Ausbau des Vorzeigeprojekts zu interessieren.
Gefunden wurde diese Unterstützung alsbald in Mitgliedern des Israelitischen Humanitätsvereines »Eintracht«, hier vor allem Felix Lederer, sodass die bestehende Holzbaracke alsbald um einen, mit Badeeinrichtungen und Liegehalle versehenen, Holzbau erweitert werden konnte. Eingedenk Lederers, der schon bald nach Fertigstellung des Anbaues im Jahre 1921 verstarb, wurden die beiden Liegehallen »Felix-Lederer-Heim« benannt. Noch ein zweiter großzügiger Förderer erwuchs dem Sonnentagesheim aus den Kreisen der »Eintracht«. Bernhard Altmann ließ 1923 auf eigene Kosten einen gemauerten Neubau ausführen, der sich räumlich und in der Fortführung der Liegeterrasse den beiden bisher bestehenden Gebäuden anschloss. Zu Ehren der Mutter des Förderers wurde diesem Gebäude der Name »Karoline-Altmann-Pavillon« gegeben.
Durch den Ausbau des Tagesheimes konnte ab 1924 eine Vollauslastung von 90 – während der Ferienmonate gleichzeitig aufgenommenen – Kindern erreicht werden. Um auch die Zeit vor den Schulferien ausnützen zu können, wurden ab Mitte Mai vorschulpflichtige Kinder aufgenommen. Die Auswahl der Kinder erfolgte durch die Anstaltsleitung, wobei tuberkuloseverdächtige Kinder bevorzugt aufgenommen wurden. Der Betrieb wurde in erster Linie aus Spenden der »Eintracht« und durch die Eltern der Kinder finanziert. Mittel für die restlichen laufenden Betriebskosten steuerten Kultusgemeinde, jüdische Fürsorgeeinrichtungen sowie die Gemeinde Wien bei.
Der »Anschluss« Österreichs an Deutschland zeigte bereits innerhalb weniger Monate dramatische Folgen für das jüdische Fürsorgewesen. Unter der Leitung des nationalsozialistischen »Stillhaltekommissars« für Stiftungen und Vereine wurden auch alle 200 Vereine, die im Sozial- und Fürsorgewesen aktiv gewesen waren, aufgelöst und ihre Vermögenswerte beschlagnahmt. Die Liegenschaft im Augarten wurde am 11. April 1944 dem Auswanderungsfonds überantwortet, in dessen Eigentum sie bis 11. November 1949 stand. Der Auswanderungsfonds, dessen Vermögen später auf den »Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren« übertragen wurde, war eine weitgehend im rechtsfreien Raum arbeitende Behörde, die sich des »freiwillig« überlassenen jüdischen Vermögens annahm.
Das Ende der vierziger Jahre rückgestellte Grundstück hatte freilich mit dem Vorkriegszustand nur noch wenig gemein. »Außer Streit steht«, laut eines Schreibens der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland aus dem Jahr 1950, »dass sämtliche Objekte auf der Liegenschaft durch Kriegseinwirkungen zerstörte wurden und der Bodenwert durch Schutt und Gebäudereste vermindert worden war«.
Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien hatte nach 1945, nach der Zerstörung ihrer Infrastruktur und der Verarmung bzw. dem Fehlen ihrer Mitglieder mit verstärkten finanziellen Aufwendungen zu kämpfen. Die anfänglichen Subventionen von jüdischen Organisationen aus den USA wurden in den sechziger Jahren eingestellt. Die Republik restituierte zwar in den Nachkriegsjahren nach und nach die der Kultusgemeinde geraubten Grundstücke, zahlte für die Instandsetzung des am 9. November verwüsteten Stadttempels, für die eigentlich zerstörte Infrastruktur der Gemeinde, darunter alleine in Wien über 90 Synagogen und Bethäuser, die während des Novemberpogroms niedergebrannt worden waren, wollte sie aber nicht aufkommen.
Um das jährliche Defizit zu decken, war die IKG dazu genötigt, die meisten ihrer Immobilien und restituierten Grundstücke zu verkaufen; zu viel zu geringen Preisen und meist an die Stadt Wien. Bei diesen Verkäufen ging es insgesamt um zwei Drittel der Liegenschaften, darunter auch das im Augarten gelegene. Erst ab den späten siebziger Jahren waren die Stadt Wien und die Republik Österreich bereit, die für die Zukunft und das Überleben notwendigen und zum Teil neu gegründeten Institutionen, darunter die neu errichtete, an den oberen Teil des Augarten unmittelbar angrenzende Lauder-Chabad Schule, finanziell zu unterstützen.
Nach einer Zusage des damaligen Bürgermeisters Helmut Zilk seitens der Gemeinde Wien ein geeignetes Grundstück zum Bau einer neuen Schule zur Verfügung zu stellen, erklärte sich die Ronald S. Lauder Foundation, benannt nach dem jüdischen Mäzen und ehemaligen US-Botschafter in Österreich, dazu bereit einen Schulbau zu finanzieren. Auch damals schon versuchte eine Bürgerinitiative »Rettet den Augarten« das Bauvorhaben noch in seiner Planungsphase zu stoppen. Ein Streit, der 1997 mit einer einvernehmlichen Lösung beigelegt werden konnte. Die Ronald S. Lauder Foundation erklärte dabei unter anderem »unwiderruflich, auf jedwede Expansion im Areal des Augartenparks zu verzichten«, sowie »durch eine »sanfte Bauweise« möglichst viele Bäume zu erhalten und ihre bisherige Planung in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative in dieser Hinsicht zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern.«
Die 1998 eröffnete Schule umfasst heute eine Kinderkrippe und Kindergarten, Volks- und Mittelschule sowie die Jüdische Religionspädagogische Akademie zur Ausbildung jüdischer Lehrer. Die Kinder stammen dabei vorwiegend aus jüdischen Familien, die seit den 70er Jahren aus der UdSSR bzw. deren Nachfolgestaaten nach Österreich eingewandert waren.
Rudolf Rattus