Erik Meinharter


Dass es im Jahr 2023 noch – oder wieder – Politiker:innen gibt, die Obdach­losen zuschreiben, sie würden ihre Lebensumstände freiwillig als lifestyle wählen, ist mehr als beschämend. Vor allem wenn es sich wie bei der – mittler­weile zurückgetretenen – britischen Innenministerin auch noch um die Politikerin eines entwickelten Industrielandes handelt.[1] Möglicherweise hätte Großbritannien auch nicht die Erklärung von Lissabon der EU mitgetragen, die sich der Herausforderung der Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 annimmt, wäre es noch Mitglied der europäischen Union. 2021, mitten in der Pandemie, haben alle EU-Staaten einstimmig ein Programm angenommen, welches mit fünf Zielen versucht, homelessness zu überwinden.
        »Alle Beteiligten haben sich verpflichtet, ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit zu verstärken, insbesondere durch die Stärkung der Prävention und die Umsetzung integrierter, wohnungsbezogener Ansätze, die darauf abzielen, Obdachlosigkeit zu beenden und nicht nur zu verwalten.« (EMPL k.A.)

Besonders bemerkenswert ist, dass die Deklaration auch das Thema der Prävention einschließt und somit eine Wende von der Verwaltung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit hin zur Beendigung nimmt. Folgende fünf Ziele sind explizit in der Vereinbarung (siehe Combatting Homelessness Conference 2021) festgehalten:

— niemand muss wegen eines Mangels an zugänglichen, sicheren und geeigneten Notunterkünften auf der Straße schlafen

— niemand ist länger in Not- und Übergangsunterkünften untergebracht, als für den erfolgreichen Übergang in eine dauerhafte Unterkunft erforderlich ist

— niemand wird ohne das Angebot einer angemessenen Unterkunft aus einer Einrichtung (z. B. Haftanstalt, Krankenhaus, Pflegeeinrichtung) entlassen

— Zwangsräumungen sollten, wenn möglich, vermieden werden und niemand wird seiner Wohnung verwiesen, ohne Unterstützung bei der Suche einer angemessenem Unterbringungslösung zu erhalten, soweit dies erforderlich ist

— niemand wird aufgrund seiner Obdachlosigkeit diskriminiert

Auf Basis dieser Deklaration wurde eine Europäische Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit gegründet, welche im Austausch zwischen den Ländern und deren Strategien zu einer gemeinschaftlichen Lösung führen soll. Daneben wird der Zugang zu Finanzmitteln und die Verstärkung der Evidenz über Obdachlosigkeit vereinbart. Diese Strategie steht im Einklang und basiert auf den Zielen für nachhaltige Entwicklung (sogenannte SDG – Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen. Die Ziele 1 – »Armut in all ihren Formen und überall beenden« und 11 – »nachhaltige Städte und Gemeinden«, beinhalten die Aufgabenstellung, bis 2030 Ungleichheit beim Zugang zu leistbarem Wohnraum zu beseitigen und diesen auch allen anbieten zu können (United Nations 2023).[2]

Obdach- oder Wohnungslos

Schon die Wortwahl in der Übersetzung der Lissaboner Erklärung lässt die Ziele fokussierter erscheinen, als sie sind, denn ›Obdachlosigkeit‹ ist nur ein Teilbereich der Wohnungs­losigkeit. Diese ist viel umfassender und zeigt sich in vielfältigen Formen von ›unvollständigem Wohnen‹. Die ETHOS-Definition von Wohnungs- und Obdachlosigkeit (feantsa.org/download/at___6864666519241181714.pdf), entwickelt vom europäischen Dachverband der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA), bietet einen klareren Einblick in die vielfältigen Herausforderungen bei der Bewältigung dieser sozialen Frage. Obdach­losigkeit ist nur die sichtbarste aller Formen der Wohnungs­losigkeit, die mit ›wohnungslos‹ (z. B. Menschen, die in Wohnungsloseneinrichtungen, Frauenhäusern etc. wohnen) über ›ungesichertes Wohnen‹ (z. B. von Delogierung bedrohte, temporär bei Verwandten Wohnende etc.) bis hin zu ›ungenügendes Wohnen‹ (Wohnprovisorien, ungeeignete Wohnungen etc.) alle Menschen einschließt, die keine vollwertige Wohnung bewohnen können. Durch diese Definition wird auch klarer, wie groß die Herausforderungen tatsächlich sind, bis 2030 die Ziele der Erklärung von Lissabon umzusetzen – auch, da aufgrund der Preisdynamiken am Wohnungsmarkt und der steigenden Neben- und Lebenshaltungskosten die Sicherung des Wohnens zu einer noch größeren Herausforderung für die Gesellschaft wird.

Wie wieder wohnen?

Da in der Lissabonner Erklärung die Frage nach der Überwindung der Wohnungslosigkeit mittels bereits erprobter Strategien gefordert wird, rückt Housing First als strategischer und nachhaltiger Ansatz zur Bewältigung in den Vordergrund. Das Konzept Housing First besagt, dass die Behebung sozialer Herausforderungen von Wohnungslosen dann nachhaltig erfolgreich sein kann, wenn die Lösung der Wohnungsfrage als Erstes in Angriff genommen wird. Mit dem – eigenständigen – Wohnen starten die Beratungen und Unterstützungen durch Sozialarbeiter:innen der Hilfsorganisationen, wie Caritas, Diakonie, Volkshilfe, Heilsarmee, Hilfswerk, Rotes Kreuz, Obdach Wien oder eben neunerhaus, um die Herausforderungen zu überwinden und die soziale Integration zu schaffen. Das Wohnen steht somit am Anfang einer Strategie zur nachhaltigen Bekämpfung von Armut. Neben dem europäischen Vorreiterland Finnland haben sich auch Spanien und viele weitere Länder dem Housing-First-Ansatz geöffnet, der ursprünglich aus Nordamerika kommt. Auch in Österreich wird er verfolgt und insbesondere durch die BAWO[3] als Dachorganisation der Obdachlosenhilfsorganisationen vertreten. Auch wenn Housing First in der Praxis bereits umgesetzt wird, reicht die Zahl der angebotenen Wohnungen natürlich noch bei weitem nicht aus, um das Problem der Wohnungslosigkeit aus der Welt zu schaffen. Heute, sieben Jahre vor dem vereinbarten Zieldatum, lässt sich bereits konstatieren, dass eine Umsetzung der Ziele nur mit einiger Kraftanstrengung und vor allem mit mehr Beteiligten als nur den Sozialministerien der EU-Staaten bewältigt werden kann.
        Im Zentrum der vielfältigen Herausforderungen steht die große Aufgabe, leistbaren Wohnraum zu schaffen und diesen tatsächlich nachhaltig zur Verfügung stellen zu können. Da diese Aufgabe bereits beim geförderten Wohnraum eine wirtschaftliche Herausforderung darstellt, ist sie beim Projekt Housing First sogar noch anspruchsvoller.

Eine gemeinsame Herausforderung, ein neuer Blickwinkel

Es geht bei der Bewältigung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit also vor allem um eine gemeinsame Anstrengung, Menschen, die ohne die Chance, über den Wohnungsmarkt ihre Wohnbedürfnisse befriedigen zu können, in eine sozial benachteiligte Position gelangen, eine Zukunftsperspektive zu geben. Exklusion und Stigmatisierung sind Begleiterscheinungen des Wohnungsverlusts, die in Folge in eine Negativspirale münden und damit zu einem weiteren sozialen Abstieg führen können. Gegen negative Zuschreibungen und die Stigmatisierung von wohnungslosen Menschen vorzugehen und aufzuklären, dass es keineswegs vorrangig individuelle Faktoren sind, die Menschen in die Obdachlosigkeit rutschen lassen, ist eine weitere Aufgabe bei ihrer Überwindung. Nur das Wissen über und ein Verständnis für die unterschiedlichen und vielfältigen Einflussfaktoren, welche eine Wohnungslosigkeit auslösen können, können dazu führen, diese auch nachhaltig zu verhindern.
        Wohnen bildet einen Grundstein des Selbstverständnisses des Menschen. Das Recht auf Wohnen wird sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen als auch im Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)[4], der in Österreich Rechtsgültigkeit besitzt, erwähnt. Im Gegensatz zum Artikel 31 der Europäischen Sozialcharta (Europarat 2018), in dem ein Recht auf Wohnen beschrieben wird, der aber nur von wenigen Ländern (z.B. Andorra, Finnland, Frankreich, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Ukraine …) ratifiziert wurde. Das im CESCR verwendete einfache Wort ›Unterbringung‹ in Artikel 11 birgt gewiss weiten Interpretationsspielraum, Ziel sollte in jedem Fall ein angemessener und adäquater Raum zum Wohnen für alle sein.

Fußnoten


  1. www.derstandard.at/story/3000000193784/britische-innenministerin-will-gegen-zelte-von-obdachlosen-vorgehen. ↩︎

  2. »By 2030, ensure access for all to adequate, safe and affordable housing and basic services and upgrade slums«, UN Sustainable Development Goals: Goal 11.1; www.un.org/sustainabledevelopment/cities/. ↩︎

  3. Die BAWO – Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist ein 1991 gegründeter gemeinnütziger Verein, der als österreichweiter Dachverband der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe fungiert. www.bawo.at ↩︎

  4. Aus dem Artikel 11 des CESCR: »Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.« www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000629 ↩︎


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Literaturliste

Combatting Homelessness Conference (2021): Lisbon Declaration on the European Platform on Combatting Homelessness; www.ec.europa.eu/social BlobServlet?docId=24120&langId
EMPL – Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration (k.A.): Obdachlosigkeit. www.ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1061&langId=de. Europarat (2018): Europäische Sozialcharta. www.rm.coe.int/eeuropaische-sozialcharta-/16808b6382
United Nations (2023): The Sustainable Development Goals Report. S. 34–35; www.unstats.un.org/sdgs/report/2023/The-Sustainable-Development-Goals-Report-2023.pdf.