
Kino als Gegengift?
Besprechung der Viennale 2024Angesichts der gegenwärtigen Situation laufen die Diskussionen heiß, wie gegen die weltweite Verschärfung von Migrationspolitiken vorgegangen werden kann. Zunehmend mehr Kulturschaffende sind von restriktiven autokratischen Maßnahmen und Gefängnisstrafen bedroht. »Es war eine wunderbare Ausgabe, die sich natürlich mit dem politischen Klima der Unsicherheit und Besorgnis und den Konfliktsituationen an so vielen Fronten auf internationaler Ebene auseinandersetzen musste«, ergreift Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi in ihrem Abschluss-Statement klar Position für ein politisches Kino. In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Spannungen appelliert sie an die gemeinschaftsbildende Fähigkeit des Kinos und hebt dessen Vermittlerrolle als multilinguales Medium hervor.
Wie kann Filmemachen als gesellschaftspolitische und interventionistische Praxis eingesetzt werden? Welche Wirkung kann Film im Kampf gegen Femizide, Morde und Kidnapping durch Drogenkartelle, Polizei und Militär in Mexiko erzielen? Das derzeit bei Filmfestivals gern gesehene mexikanische Colectivo Los Ingrávidos (Tehuacán) wurde 2012 als Protestaktion gegen systematische Unterdrückung und gegen die Kompliz:innenschaft der kommerziellen Massenmedien gegründet. Anknüpfend an ein avantgardistisches, unabhängiges und risikobereites Kino bedient sich das Kollektiv der Methode der Demontage von Archivmaterialien und protestiert so gegen umgreifende Entfremdungsprozesse und Gewalteskalationen in der mexikanischen Gesellschaft. Angesprochen werden sollten damit die Massen. Experimentell im Umgang mit digitalem und analogem Material und Found Footage lebt das Kino des Kollektivs aus einem Mix aus Agitprop, Documentary Poetry und gesellschaftlichem Protest. Rituale der mexikanischen und mesoamerikanischen Kultur aufgreifend wird durch eine experimentelle Filmdramaturgie erfolgreich an unsere widerständigen Instinkte appelliert. Die Schaffung und das Experimentieren mit Trancezuständen im Produzieren und Rezipieren der Filme zählt mit zu den Schlüsselstrategien ihrer politischen Agenda. Schamanistische Techniken geraten durch Materialien wie Feuer oder im Umgang mit der Kamera zum Einsatz. In Zusammenarbeit mit sixpackfilm wurde im Kurzfilmprogramm eine Auswahl antikolonialer Filme des Kollektivs wie After América (2021), Batalla (2019), Brussels (2024), Colonia Transfer (2021), Danza Solar (2021), Extractivistas (2016), Guerras Floridas (2021), Impressions for a light and sound machine (2017), El nido de sol (2021), Transmission/Misframing (2014), Tláloc (2015) und Teocalli (2024) präsentiert. Der Kurzfilm After América thematisiert die Spuren und kulturellen Konstruktionen, welche europäische und amerikanische Kolonialisierungen in der gegenwärtigen migrationspolitischen Auseinandersetzung hinterlassen haben.
Wie sehr Filmemacher:innen von politischen Repressalien, Autoritarismus und Freiheitsentzug betroffen sind, macht die Begegnung mit dem aus dem Iran vor einer hohen Gefängnisstrafe geflohenen Filmemacher Mohammad Rasoulof eindringlich spürbar, dessen Film Daneh Anjeer Moghadas (Die Saat des Heiligen Feigenbaums) in seiner Anwesenheit präsentiert wurde. Hautnah durch das Integrieren von Social-Media-Clips über die blutige Eskalation zwischen Protestierenden und der Polizei während der durch den Tod von Mahsa Amini ausgelösten Proteste in Iran 2022 konfrontiert, wird das politische Szenario als Familiendrama und Paranoia-Thriller inszeniert. Während der Vater kurz davor steht, als Richter an das iranische Revolutionsgericht befördert zu werden, zählen die Töchter zu den protestierenden Verfechter:innen für Frauenrechte. Verkörpert durch ihre Mutter Najmeh (Soheila Golestani) bringt der Film drastisch zum Vorschein, wie stark die Tyrannei des Staates in die Bewusstseinsbildung und das persönliche Leben eindringt.
Mit den psychischen Folgen der Migration befasst sich die georgische Regisseurin Rusudan Glurjidze in ihrem neuesten Film Antikvariati, der in Kollaboration mit einer Betroffenen entstand, deren Identität aus politischen Gründen anonym bleiben muss. All We Imagine as Light (2024) der indischen Regisseurin Payal Kapadia wählt als cinematografische Hommage an die Geburtsstadt des indischen Kinos Mumbai als Drehort. Ein Großteil der Szenen spielt nachts. Die nächtliche urbane Atmosphäre, geprägt durch das Hupen von Autos, das Flimmern der Lichter und das Rattern der Züge, ist allgegenwärtig. Während Payal Kapadia zu Beginn des Films ihrer Heimatstadt als »Celluloidcity of Dreams« Tribute zollt, entwickelt sich der Film zunehmend zu einem Sozialdrama, das das intime Leben von drei starken Frauen zeigt. Sie arbeiten unter prekären Bedingungen in einem Spital, ihre Männer sind teils von Arbeitsmigration betroffen. Ihre Geschichten vermischen sich mit dem urbanen Leben und anonymen Aussagen von Bewohner:innen in verschiedenen Sprachen zu einem komplexen Porträt des städtischen Lebens.
Erneut gab es bei der diesjährigen Viennale einen Schwerpunkt für den österreichischen Film. Präsentiert wurden unter anderen Kurdwin Aybus Film Mond, Alexander Horwaths Essayfilm Henry Fonda for President oder Juri Rechniskys Film Dear Beautiful Beloved. Der Wiener Filmpreis 2024 ging an The Village next to Paradise von Mo Harawe, der vorwiegend in Somalia von einem lokalen Team und mit Newcomer-Schauspieler:innen gedreht wurde. Sich der Alltagsrealität stellend zeigt er die Herausforderungen einer neu gegründeten Familie. Ein Film, der globale Dynamiken in der Komplexität von Migration, Zugehörigkeit und Zusammenhalt gelungen unter einem anderen Blickwinkel zeigt, als wir ihn durch die Massenmedien vermittelt bekommen. Im Kontrast dazu pflegt der Erotikthriller Motel Destino von Karim Aïnouz einen freizügigen Voyeurismus, indem er die erotischen Verwicklungen seiner Protagonist:innen in einem Stundenhotel thematisiert. Einmal mehr beweist die Viennale, wie sehr Kino integratives Medium unserer Alltagswelten ist.
Viennale – Internationales Filmfestival
17. bis 29. Oktober 2024
Ursula Maria Probst ist Kulturarbeiterin, Kritikerin und Kuratorin in Wien.