Ist Kommunismus langweilig?
Besprechung von »Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen« von Michael ZinganelMichael Zinganel
Real Crime
Architektur, Stadt und Verbrechen
Wien: edition selene, 2003
353 S., EUR 25
Michael Zinganels Buch Real Crime begleitet dérive seit der ersten Ausgabe. Damals haben wir erste Auszüge veröffentlicht. Im Dezember haben wir das Buch als Abogeschenk angeboten; unser Vorrat war nach einem Tag weg, so schnell wie bisher bei keinem anderen Buch. Die lange Entstehungszeit dürfte sich also nicht negativ auf das Interesse an dem Buch ausgewirkt haben.
Zinganels Ausgangspunkt sind Karl Marx’ Abschweifungen über produktive Arbeit, in denen dieser auf die enorme Produktivkraft des Verbrechens hinweist. Nicht nur die nahe liegenden Bereiche wie Polizei und Justiz wären ohne Verbrechen schlicht überflüssig, auch auf eine Unzahl von literarischen Werken (Marx erwähnt Shakespeares »Richard III« und Schillers »Räuber«) müssten wir verzichten. Außerdem: »Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn.« (Marx) Zinganel wendet Marx’ Thesen in Real Crime nun auf die Architektur und die Entwicklung der Stadt an: »Ziel dieser Publikation ist es in erster Linie, begreiflich zu machen, wie die Angst vor dem ,Verbrechen‘ im Alltag produziert und reproduziert wird, in welcher Form und zu welchem Zweck sie in Architektur und Stadtplanung produktiv umgesetzt wird, wie wirksame Feindbilder und Risikoszenarien etabliert werden, um (bauliche) Präventionsmaßnahmen zu legitimieren, die sich schlussendlich in international angeglichenen (Bau-)Normen und Versicherungspolizzen niederschlagen. Dabei soll die Produktivkraft des Verbrechens nicht nur in Diskursanalysen, sondern auch mit konkreten realisierten Beispielen aus der Baugeschichte belegt werden.« Als »Verbrechen« bezeichnet Zinganel jedes abweichende Verhalten, das von den dominanten Kräften einer Gesellschaft kriminalisiert wird.
Neben Marx, der Zinganel die These geliefert hat, bilden Vanessa Schwartz und ihre Analyse »der zentralen Rolle der Medien bei der Vermittlung realer oder imaginierter Bedrohungsszenarien«, Mike Davis’ Analyse sozialräumlicher Verteilungskämpfe in Los Angeles, Martin Pawleys Darstellung der baulichen Auswirkungen des IRA-Bombenterrors und James Donalds Methode des Denkens über die Stadt anhand von Texten und Bildern von Stadt die einflussreichsten Quellen.
Da es LeserInnen heutzutage offensichtlich nicht mehr zuzumuten ist, ein Buch von 350 Seiten zu lesen, oder aus sonst einem Grund, hat sich auch Zinganel darauf eingelassen, die Kapitel als eigenständige »Erzählungen« zu schreiben, die in »beliebiger Reihenfolge« gelesen werden können, was dem Erlebnis, ein Buch zu lesen, leider ein wenig abträglich ist, weil die Spannung nach jedem Kapitel weg ist. Zinganel bietet eine ausführliche Darstellung aller möglichen Aspekte der Produktivkraft des Verbrechens, die gerade da am besten ist, wo man meint, eh schon alles zu wissen. Da stört es auch nicht, wenn man gelegentlich das Gefühl hat, dass er sein Thema jetzt etwas zu sehr ausreizt.
Mit fortschreitender Lektüre beginnt man sich dann aber zu fragen, was nun der Clou an der Sache ist. Wir wissen nun zwar, dass Verbrechen tatsächlich eine enorme Produktivkraft haben und man sich mit »Verbrechensbekämpfung« eine goldene Nase verdienen kann, haben vieles über Hochsicherheitshochhäuser und Re-präsentationsarchitektur, Gated Communities und New Urbanism, den Verfall US-amerikanischer Innenstädte und die Gefängnisgesellschaft, das Paris Haussmanns und die Wiener Superblocks, einiges über Fuse Zones (da hätte ich gerne mehr darüber erfahren!) und so manches anderes gelesen, aber was wir immer noch nicht wissen: Was ist die Erkenntnis, die über die eindrucksvolle Bestätigung der These von Marx hinausgeht? Gibt es irgendeinen Ausweg aus dem Schlamassel, oder müssen wir froh sein, dass es das Verbrechen gibt, weil wir sonst keine Krimis zu lesen hätten? Die Definition von »Verbrechen« ist bei Zinganel so breit, dass eine Gesellschaft ohne Verbrechen nicht vorstellbar scheint. Wäre es nicht sinnvoller, für genauere Begriffe zu plädieren, die nicht den Wunsch einer Mutter, ihr Kind im Auge behalten zu können, mit der Errichtung eines Überwachungsstaates in Zusammenhang bringen? Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten, aber kann man den Umstand, dass das eine verständlich und das andere abzulehnen ist, einfach vernachlässigen? Spannend wäre es auch gewesen, mehr darüber zu erfahren, in welchen Gesellschaften das Sicherheitsbedürfnis besonders hoch ist und wie das mit der sozialen und politischen Struktur zusammen hängt. Also Stoff genug für einen zweiten Band.
Michael Zinganel
Real Crime
Architektur, Stadt und Verbrechen
Wien: edition selene, 2003
353 S., EUR 25
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.