Kooperative Potenziale
Besprechung von »Kooperative Standards« hg. von Marieke Behne, Justus Griesenberg & Christoph HeinemannMarieke Behne, Justus Griesenberg, Christoph Heinemann (Hg.)
Kooperative Standards
Hamburg: adocs, 2023
182 Seiten, 20 Euro
Marieke Behne (Projektbüro), Justus Griesenberg und Christoph Heinemann (ifau, 2017–22 Professur Architektur und Stadt an der HafenCity Universität Hamburg) publizierten im verdienstvollen adocs-Verlag Ergebnisse ihrer Tätigkeit an der HafenCity Universität während der letzten etwa fünf Jahre: Die Reihe Kooperative Standards besteht aus sieben Broschüren in einem Schuber. Jede Broschüre präsentiert einen Standard im Sinne eines Bauelements, dessen Einsatz die kooperative Nutzung von gebautem Raum unterstützt und erleichtert, statt sie zu erschweren oder zu verhindern. Es handelt sich somit nicht um Standards im Sinne eines zu erreichenden Minimums, wie es etwa der Passivhaus- oder Niedrigenergie-Standard darstellen, sondern als »offener Möglichkeitsraum«, als Angebot von Potenzialen, um über das Übliche hinausgehen zu können. Diese Standards erinnern deshalb ein wenig an Elinor Ostroms Designprinzipien für Gemeingüter, sind aber, anders als diese, eher beispielhaft als umfassend zu verstehen, das heißt man darf hoffen, dass die Reihe fortgesetzt wird und auf die sieben ersten Standards weitere folgen. Diese Beispiele sollen durch ihre Form oder ihr Programm bestimmte Nutzungsweisen nahelegen, sie speisen sich aus der Erfahrung. Allerdings brauchen sie bestimmte, eben kooperative Arten des Umgangs.
Jeder Standard wird anhand von Fotos, Skizzen, Plänen und Gesprächen in Deutsch, Englisch oder Französisch anhand eines Bauprojekts dargestellt, das von einem Team geplant wurde. Entsprechend dem kooperativen Anspruch handelt es sich teils um partizipativ geplante Projekte, teils um solche, die für die zukünftigen Bewohner:innen oder Nutzer:innen besondere Freiheiten der Nutzung in einem gemeinschaftlichen Sinn erreichen wollen.
Der erste, etwas paradoxe Standard aus Jesko Fezers Wiederaufbau des Pudel Clubs in Hamburg nach einem Brand ist die »fette Betonplatte«, die nichts anderes bietet als die Möglichkeit, den Raum darüber und darunter weitgehend unabhängig voneinander und ohne gegenseitige Beeinträchtigung zu nutzen: unten der Club, oben das Büro, die Kantine und der Veranstaltungsraum. Zwischen den beiden Ebenen gab es vor dem Brand immer wieder Nutzungskonflikte, die nun behoben werden sollten. Die Platte sollte es außerdem möglich machen, den darunter befindlichen Club möglichst rasch wieder zu starten, ohne dass er das Umfeld mit Lärm beeinträchtigt und Limitierungen für die Räume oben schafft, die nun unabhängig und in ihrem eigenen Tempo entwickelt werden konnten. Das Projekt umfasst jedoch auch einen zweiten, etwas im Hintergrund befindlichen kooperativen Standard, nämlich eine dreidimensionale Holzständerstruktur in einer Dimension, die flexibel die verschiedenen geplanten Nutzungen aufnehmen kann, sodass diese Nutzungen ebenfalls relativ unabhängig voneinander geplant werden konnten. Die Standards sind demnach in diesem Fall Voraussetzung für kooperative Planung und Umsetzung.
Standard 2 ist Element eines deutlich älteren Projekts, nämlich der große Balkon, den Hinrich und Inken Baller bei ihren Wohnhäusern am Fraenkelufer in Berlin anboten, die bereits 1983 im Rahmen der IBA 87 errichtet wurden. Die Balkone sollten hier groß genug sein, um Tisch, Sessel und Bepflanzung Platz zu bieten und um als Erweiterung des Wohnraums zu funktionieren. Auf ähnliche Weise bietet das bewohnbare Glashaus von Lacaton & Vassal, realisiert beispielsweise in der Cité Manifeste in Mulhouse 2005, einen Erweiterungs- und Zwischenraum, der preiswerte Großzügigkeit bietet, aber auch entsprechende Nutzungsweisen verlangt. Ein besonderer Fall ist die kollektive Betriebswohnung, die Gabu Heindl in Wien für das Kollektiv SchloR im Betriebsgebiet, auf einem Zirkus-Trainingsgelände realisierte: Die gewerbliche Nutzung sollte hier, wo übliches Wohnen nicht erlaubt ist, durch mit dem Betrieb verknüpftes Wohnen in Form einer großen WG ergänzt werden. Weitere Standards sind das Gerüst im Hof im Wohnbau Schmitz in Brüssel von common room und LDSRa, das Bühne und Erschließung in einem ist; der gemeinsame Wintergarten in Granby Four Streets in Liverpool von Assemble als Gemeinschaftsraum der Siedlung; und der breite Laubengang in der Siedlung Kleiburg in Bijlmermeer/Amsterdam, der von NL architects und XVW architectuur beibehalten wurde.
Die Standards bieten also vielfach Überschussraum oder Zwischenraum, der preiswert hergestellt bzw. erhalten und auf spezielle Weise genutzt werden kann, um so Platz für Besonderes und Gemeinsames zu bieten. Man könnte sich, ausgehend von den ersten sieben Standards, weitere Formen überlegen, etwa das Weglassen der Tiefgarage in einem Wohnbau, um den öffentlichen Raum zum Schauplatz zu machen. Oder, vielleicht ebenso interessant, man könnte das genaue Gegenteil, anti-kooperative Standards darstellen: Zäune, die trennen und unzugänglich machen; fehlender Lärmschutz, der verschiedene Nutzungen am gleichen Ort verunmöglicht; Balkone als architektonisches Zitat statt als nutzbarer Raum; und vieles mehr.
Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.