Landschaft und Film
Berlinale 2007Wind in den Bäumen, in den Feldern, im Schilf, auf dem Wasser, dazu mildes Sommer- oder Herbstlicht – Bewegung und Natur allerorten: es scheint, als ob sich das zeitgenössische Kino auf seine Wurzeln besinnen wollte. Das Einfangen der bewegten Oberflächen ist etwas, das Siegfried Kracauer einst im Zuge seiner „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ nicht müde wurde zu betonen: „Um 1860 sagten Cook und Bonnelli, die das sogenannte Photobioskop entwickelt hatten, eine ‚vollständige Revolution der fotografischen Kunst‘ voraus: Wir werden Landschaften sehen (...) in denen Bäume sich den Launen des Windes fügen, die Blätter im Sonnenlicht zittern und glänzen werden.“ (Kracauer, Siegfried;1985: Theorie des Films. Frankfurt: Suhrkamp. S. 53.) Was für eine Möglichkeit also: damals – und heute anscheinend wieder. Ein Sehen nach dem Sehen, nach und vor den digitalen Fluten und dem immer besseren Darstellen von rechnerisch komplexen Dingen wie Fell und Wasser im computergenerierten Filmbereich. Die diesjährige Berlinale brachte dieses schlichte konzentrierte Beobachten von bewegten fotografischen Oberflächen insbesondere in den Festivalsparten Panorama und Forum in besonderem Maße zum Vorschein.
Shotgun Stories von Jeff Nichols zeigt dabei Baumwollfelder, Fischteiche und Flussläufe im Süden der USA – schlichte Situationsaufnahmen inmitten und jenseits der Geschichte: Das pure Sehen – die stillen Töne der Weite: vieles erinnert an den frühen Terrence Malick der Badlands und Days of Heaven. Die Bilder dienen geradeheraus als reine Zustandsbeschreibungen und entziehen sich auch und gerade in der Brutalität ihrer Handlungszusammenhänge einer psychologisierenden Erklärung. Sie können aus dem Gesamtzusammenhang gelöst betrachtet werden und bilden ihn doch erst neu. Unabhängig und still stehen sie da: Witterungsverhältnisse in den Totalen des Horizonts genauso wie Großaufnahmen des reduziert und dadurch umso eindringlicher spielenden Michael Shannon. Dieser Film zeigt die Landschaft von Arkansas und eine nahezu antike Familienfehde – doch eben nicht als die linearen Glieder einer Reihe: Das Synchronische tritt vor das Diachronische, selbst in den hier so offensichtlichen Zeitläufen. Meist geht es dabei um die verlangsamte Abbildung sichtbarer Vorgänge mit einem Anspruch des Now nach Barnett Newman, als einer Fortentwicklung des Konzepts des Erhabenen im Sinne eines betonten Bewusstseinsaktes der Gegenwart gegenüber, – ohne eine Übertragung auf Fragen nach einer metaphysischen Verfassung dahinter bzw. auf lineare Deutungshoheiten an sich. Näher ist dies eher einer Oberflächenphänomenologie des Hier und Jetzt. Die Kamera vollzieht ein Beobachten mit Distanz und von außen – nicht viel ist zu sagen – auch nicht unter den archaischen Brüderkonstellationen des Films – der bessere Akt scheint hier immer „Ruhe, Sitzen und Schauen“ zu sein. Der nahe und immer ferne Horizont bleibt dabei allgegenwärtig. Nicht weniger erscheint es so verständlich, dass der Regisseur Jeff Nichols als Dokumentarfilmer begonnen hatte: Die Landschaft und die in ihr enthaltenen Arbeitsbedingungen des amerikanischen Südens handeln hier mehr an den Brüdern als diese an ihr.
Ist es das, was schon Georges Sadoul mit der Affinität des Films zum Leben umschrieb: die bewegten Zustände, die vor sich hinbrüten, flimmern, flirren und einfach da sind? Eine Form der Einbettungsvornahme aller Geschichten in natürliche Zusammenhänge der Umgebung. Es scheint zumindest auch so in La Leon von Santiago Otheguy: Männer in Booten und einer, der hier wortkarg seine Arbeit verrichtet und still dabei auch leidet und begehrt. Die größte Intensität – im ruhigen Erzählen und in bildausfüllenden Kadierungen von Schilfgräsern und Ufern.
In all diesen Filmen – wie auch in den wunderbaren Leerlauffilmen, die am Rande der großen Stadt unter schattigen Sommerlaubbäumen spielen (Nachmittag von Angela Schanelec und Ferien von Thomas Arslan) – passiert, was an handlungstreibenden Vorgängen passiert oder passieren könnte im Off. Einzig die Umgebung, die Natur, die Bäume, die Gräser und der Wind sind im permanenten On. Das ist eine andere Konzentration, eine andere Erzählweise, eine des Nicht-Erzählens von Aktion und Reaktion, eine des stillen Schauens und Staunens, und wenn, dann sicherlich eine der handelnden Landschaften. Erst in ihnen besinnen sich die Hauptdarsteller wieder auf ihr eigenes bedächtiges Handlungsvermögen – auch im Zögern, Nachdenken und Sich-Entziehen. Entrinnen ist dabei oft nur in den stillen Momenten des Im-Gras-Sitzens möglich. Auge und Ohr erfahren da eben auch gar keine Verdoppelungen mehr: „Die einzige Realität aber, auf die es hier ankommt, ist die wirklich existierende, physische Realität – die vergängliche Welt, in der wir leben.“ (Kracauer, S. 53.) Diese Filme verweisen definitiv in ihr eigenes Off. Die Repräsentationen machen ihr Gegenteil bewusst - und umgekehrt: Im zeitgenössischen Kino also das andere Spazierengehen oder schlicht: das materielle Filmen.
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Berlinale – 57. Int. Filmfestspiele Berlin
8. bis 18. Februar 2007
www.berlinale.de
Tina Hedwig Kaiser