Jo Schmeiser


Wie wird Antirassismus heute gedacht? Können wir antirassistische Kämpfe überhaupt beschreiben, ohne sie sofort und ausschließlich als temporäre oder lokale Reaktionen auf die vielen Formen von Rassismus in westeuropäischen Gesellschaften zu verstehen? Wie lässt sich ein politischer Antirassismus denken und praktizieren, der nicht nur zum Ziel hat, rassistischer Gewalt punktuell entgegenzutreten, oder die Wirkungsweisen unterschiedlicher Rassismen zu erklären, sondern der grundlegende Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen erreichen will? Entlang dieser Fragestellungen unternimmt die Anthologie »Landschaften der Tat« den zweifellos gelungenen Versuch, antirassistische Kämpfe, Forderungen und Erfolge in ihren spezifischen historischen Zusammenhängen zu zeigen und so eine kontinuierliche und andauernde Geschichte des politischen Antirassismus erst einmal sichtbar zu machen. Denn diese Geschichte wurde und wird immer wieder ausgelöscht und unsichtbar gemacht, was bei der Lektüre des Buches nicht zuletzt an der eigenen (Un-)Kenntnis derselben deutlich wird. Neben einer präzisen historischen Kontextualisierung und Positionsbestimmung der antirassistischen Bewegungen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Italien und Großbritannien liefern die AutorInnen auch Analysen und Vorschläge dessen, was die Geschichte dieser Bewegungen gegenwärtig bedeutet oder bedeuten könnte, welches Wissen aus ihr resultiert und wie es nutzbar gemacht werden kann für die antirassistischen und feministischen Kämpfe um die Utopie einer egalitären Gesellschaftsform. Benannt und beschrieben werden im Buch vor allem die Kämpfe aus dem Umfeld der politischen Selbstorganisation von MigrantInnen, die oder deren Eltern in westeuropäische Staaten eingewandert sind. Die AutorInnen adressieren dabei unterschiedliche Praxen, Strategien und Diskussionen in der antirassistischen Politik.
Manuela Bojadzijev untersucht Rassismustheorien in Bezug auf konkrete historische Formen des Widerstands von MigrantInnen in Deutschland. Kin Nghi Ha analysiert Identität und antirassistische Identitätspolitik im Kontext kolonialer und rassistischer Kontinuitäten der deutschen Gesellschaft. Shirley Tate fragt nach den Möglichkeiten schwarzer antirassistischer Politik unter den Bedingungen rassi-stischer Alltagserfahrungen in Großbritannien. Mogniss H. Abdallah beschäftigt sich mit den Kämpfen der ImmigrantInnen in Frankreich. Mouloud Aounid analysiert heutige Rassismen in Frankreich. Sandro Mezzadra behandelt die Situation von Flüchtlingen und Illegalisierten in Italien. Encarnación Gutiérrez Rodríguez beschreibt die antirassistische Bewegung in Spanien, die wesentlich von queeren und feministischen Gruppen geprägt wird. Ljubomir Bratic gibt einen historischen Einblick in den Widerstand von MigrantInnen und JüdInnen vor dem Hintergrund rassistischer Gesetzgebung und Parteipolitik in Österreich. Ari Joskowicz liefert eine historische Analyse der Gedenkdiskurse der jüdischen Gemeinde in Wien als Strategien der (vom Staat verweigerten) politischen Ermächtigung. Tina Leisch setzt sich mit der historischen und aktuellen politischen Situation in Kärnten am Beispiel der Reaktionen auf die »Kulturkarawane gegen Rechts« auseinander. Erdal Kaynar und Kimiko Suda stellen migrantische Selbstorganisation in Deutschland in den Kontext des Holocaust und der neonazistischen Anschläge nach der sogenannten Wiedervereinigung. Luzenir Caixeta und Rubia Salgado definieren die Bezeichnung der Migrantin als strategisch-politische Identität und führen am Beispiel der Migrantinnenorganisation MAIZ aus, welche Rolle Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit für feministischen Antirassismus haben können. Michael Fanizadeh untersucht antirassistische Strategien in Alltag und Freizeit am Beispiel des Fussballs. Bülent Öztoplu beschreibt antirassistische Praxis in der Jugendarbeit. Andreas Görg analysiert Potenziale und Konfliktlinien der antirassistischen Bündnispolitik in Österreich. María do Mar Castro Varela beschreibt Migrantinnen in Deutschland als kritische Gegenmacht und fragt nach der Sprengkraft utopischen Denkens als politischem Instrument. Kanak Attak diskutiert im Gespräch mit Subtropen über den Status Illegalisierter in Deutschland und die Forderung des Rechts auf Legalisierung. Stefan Nowotny beschreibt die Geschichte der Universal Embassy in Belgien, deren Manifest das Buch abschließt.
Einige Debatten wie z. B. jene um die Möglichkeiten und Probleme von Identität und Identitätspolitiken haben im Buch immer wieder großen Stellenwert. Ein weiterer Topos, der sich durch fast alle Beiträge zieht, ist die Analyse unterschiedlicher Formen der Diskriminierung in ihrer Verknüpfung. Antirassistisches, antifaschistisches und feministisches Wissen wird historisch kontextualisiert, aufeinander bezogen und schließlich in Strategien und Handlungsoptionen übersetzt. Die einzige Fragestellung, die im Buch mehr Raum einnehmen könnte, ist jene nach der strategischen Rolle von Öffentlichkeit und Bildpolitiken in den unterschiedlichen antirassistischen Kämpfen. Der Text von Ari Joskowicz, der die Gedenkdiskurse der jüdischen Gemeinde in Wien als Strategien politischer Selbstermächtigung liest, oder auch der Text von Rubia Salgado und Luzenir Caixeta, die Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit als ein Fundament der Arbeit der feministischen Migrantinnenorganisation MAIZ beschreiben, deuten dieses Thema jedoch an und wecken so erst das Interesse oder den Wunsch nach umfassenderer Auseinandersetzung. Ein Wunsch vielleicht, dessen Erfüllung sich die Mehrheits-LeserInnen selbst erarbeiten sollen.

Ljubomir Bratic (Hg.)
Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa.
St.Pölten 2002 (Sozaktiv Verlag)
269 S.


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