
Le bon Dieu est dans le détail
Besprechung der Ausstellung »ELEMENTE – Adam Štěchs Blick auf architektonische Details« im MAK WienELEMENTE lautet der Titel einer Ausstellung im Wiener MAK, bei der es um die Dokumentation von Details aus Bauten der Moderne, die eine besondere Qualität aufweisen, geht. Die eigentliche Spannung der Ausstellung besteht aber darin, dass die Berühmtheit der Architekt:innen keine primäre Rolle spielt. Viele von ihnen sind wenig bekannt, manche sogar vergessen. Daher setzt sich die Ausstellung nicht nur aus bemerkenswerten Entwürfen wie von Le Corbusier, Frank Lloyd Wright, Adolf Loos, oder Gio Ponti zusammen, sondern noch sehr viel mehr aus einer großen Menge unbeachteter Architekt:innen mit – wie zu lernen ist – großartigen Qualitäten, deren Spuren hier durch einzelne Details aufleuchten.
Die Ausstellung wurde von Adam Štěch gemeinsam mit seinen Kollegen des Kollektivs OKOLO Matěj Činčera und Jan Kloss entwickelt und war heuer bereits im Salone del Mobile in Mailand zu sehen. Für Wien wurde sie mit einem speziellen Fokus auf österreichische Architektur neu adaptiert und von Rainald Franz kuratiert. Auch hier wieder, neben eher bekannten Details berühmter Österreicher:innen: Wer kennt eine Wetterstation von Maria Biljan-Bilger oder ein Fauteuil mit der doppelten Autorenschaft Otto Wagner und Ernst Fuchs?
Adam Štěchs ist Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker, vor allem aber Forschungsreisender in Sachen Designfotografie mit dem Ehrgeiz, die größte Datenbank einer Einzelperson mit außergewöhnlichen Entwürfen von Gebäuden und Innenräumen zu schaffen und in einem Bildatlas festzuhalten. Sein Archiv umfasst inzwischen über 7.000 Aufnahmen von Beleuchtungskörpern, Sitzgelegenheiten, Stauräumen, Tischen, Geländern, Türen, Griffen, Fenstern, Böden, Wänden und anderen Details herausragender Bauten. Rund 2.500 davon sind nun in Wien zu sehen. Sein Medium ist das fotografische Bild und die Evozierung der Einbildungskraft durch Architektur, kein räumliches Erlebnis, sondern eher das Träumen von Räumen.
Die Ausstellung ist im Kunstblättersaal des MAK installiert und man könnte bei der Ausstellung auch von einem begehbaren Buch sprechen. Die beim Buch übliche Geste des Blätterns wird durch ein Weiterschreiten ersetzt und das zeitgenössische Auge, durch den Anblick tausender Websites trainiert, flattert ruhelos von einem Bild zum anderen, verweilt kurz und wird sofort wieder durch einen anderen Reiz in der Blickrichtung abgelenkt. Die am Smartphone geschulte Sehweise ist auch notwendig, um dieser Immersion ins Design standzuhalten.
Ein überraschender Nebeneffekt besteht übrigens darin, dass man durch diese Spuren auch dazu angeregt wird, aufgrund der beeindruckenden Details nach dem Ausstellungsbesuch mehr über das einem oft unbekannte Gebäude herausfinden zu wollen. Wer außer Spezialist:innen kennt die Casa Albero (1968–75) von Giuseppe Perugini und seiner Frau Uga De Plaisant oder die Villa Gontero von Carlo Graffi und Sergio Musmeci?
Das runde Fenster mit perfekt minimalistischer Einfassung ist ein Detail der Casa Albero. Diese Casa ist in einem Kieferwäldchen in Fregene in der Nähe Roms gelegen, wird von freiliegenden Balken und Säulen getragen und vermittelt den Eindruck eines brutalistischen Baumhauses. Tatsächlich handelt es sich um ein System, das mit kuriosen Modulelementen arbeitet. La Palla oder The Ball, zählt zu den markantesten Modulen und ist eine Kugel von fünf Metern Durchmesser, die außen angehängt wird. Die Cubetti oder die Würfel, die sich auf verschiedenen Etagen befinden, könnten stufenlos erweitert werden.
Zur gleichen Zeit wurde die brutalistische Villa Gontero (1969–71) in Cumiana, in der Provinz Turin, von Carlo Graffi (1925–1985) erbaut. Der Klient ist Riccardo Gontero, ein Turiner Unternehmer und Inhaber der Firma Impresa Cementi Armati. Die Details der Villa demonstrieren die Verwendung von sichtbaren Stahlbetonelementen oder Vibrapac-Blöcken sowie von chromatisch beleuchteten Fenstern und einer Unmenge von Verbundelementen. Der Hauseingang mit der ikonischen roten Tür erinnert an eine James-Bond-Film-Architektur. Das Haus selbst ist bizarr, es richtet sich expressionistisch stufenförmig auf, um mit einer riesigen Auskragung auf einer einzigen Stütze aufzuliegen.
Ein tropfenförmiges rotes Etwas als Griff einer Glastür steht für die intendierte Schwerelosigkeit des Maison Wogenscky (André Wogenscky und Marta Pan), das auf Stelzen steht. Der Schüler und Assistent von Le Corbusier hatte dieses Haus mit seiner Frau entworfen, die Bezüge zu Le Corbusier sind unübersehbar. Hier wird übrigens auch das Gleichgewichtsprinzip der Moderne erkennbar, indem nicht mehr die Abtragung der Last über die Stützen durch die Details unterstrichen wird.
Völlig unsystematisch seien nun einige Bilder aus der großen Menge herausgegriffen, die dem Autor in Erinnerung blieben: Johann Michel Bossards Atelierhaus und Kunsttempel (1911) mit expressionistischen Wandmalereien in der Lüneburger Heide, Lucien und Simone Krolls kuriose Details der Métrostation La Mémé (1968–75), Brüssel, die Wandmalerei im Palais de la Porte Dorée in Paris mit der Schönheit und Exotik des Kolonialismus aus den 1930er Jahren, Leuchtkörper aus dem Präsidentenpalast von Habib Bourghiba in Skanès/Monastir in Tunesien von Olivier-Clément Cacoub, Woning van Humeeck von Renaat Braems (1958) mit einem Eckfenster, das einem in die Länge gezerrten Ding gleicht. Man müsste auch die Südamerikaner:innen erwähnen, die bei uns kaum bekannt sind, und so weiter. Aber was ist überhaupt ein Detail? »Ist es nichts anderes als Architekturdesign im kleinsten Maßstab, das ein bisschen mehr technisches Wissen erfordert, nur weil es am Ende des Prozesses auftritt?«, fragt Edward R. Ford. Ist es ein Fetisch wie es Greg Lynn, Zaha Hadid und Peter Cook sehen würden? Bei den Franzosen sagt man »le bon Dieu est dans le détail«, im Deutschen heißt es »der Teufel steckt im Detail«. Diese Äußerung wird auch Mies van der Rohe zugeschrieben, und man wird im Deutschen an den Teufelspakt des Faust mit Mephisto erinnert, um das Unmögliche zu erreichen, während die Franzosen wohl eher an den Segen von oben denken.
Ist das Detail eine tectonic poché, also eine Art genetischer Zusammenfassung eines Bauwerkes? Ist es ein Symbol, ein pars pro toto? Andere Behauptungen besagen, dass Architektur heute keine Hierarchie mehr dulde und ein kollektives Werk ist, das selbst die Autor:innenschaft in Frage stellt. Aber es gibt ihn noch, diesen Stolz über das gelungene Detail, auch wenn es Stimmen gibt, die ihn der Moderne absprechen.
ELEMENTE – Adam Štěchs Blick auf architektonische Details
MAK Kunstblättersaal
18.9.2024—2.3.2025
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.