Le Corbusier in der russischen Buchhandlung. Die Nachkriegszeit im Schatten dominierender Narrative
Besprechung der Ausstellung »Kalter Krieg und Architektur. Beiträge zur Demokratisierung Österreichs nach 1945« im Architekturzentrum WienAusstellung
Kalter Krieg und Architektur. Beiträge zur Demokratisierung Österreichs nach 1945
Architekturzentrum Wien
17.10.2019–24.02.2020
Kuratorin Monika Platzer
Gestaltung: Michael Hieslmair & Michael Zinganel, Tracing Spaces
Grafik: Christoph Schörkhuber, Manuela Neuner: seite zwei
Katalog
Monika Platzer
Kalter Krieg und Architektur. Beiträge zur Demokratisierung Österreichs nach 1945
Park Books, Zürich 2019
346 Seiten, 58 Euro
Die österreichische Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch die Zäsuren zweier Weltkriege. Die damit verbundenen Brüche sind augenscheinlich, die Kontinuitäten sind schon weniger offensichtlich. Auch in Architektur und Städtebau tendieren Narrative zur Vereinfachung, manchmal auch zur Glättung. Im Rückblick dominieren die Manifestationen der Wiener Moderne die Vorkriegszeit, jene des Roten Wiens die Zwischenkriegszeit und jene der Avantgardeströmungen der 1960er Jahre die Nachkriegszeit. Im Schatten dieser prägenden Erzählungen wurde in Fachkreisen die Wiener Siedlerbewegung der frühen 1920er-Jahre diskutiert – das vorgelagerte und parallele wilde Siedeln wird erst seit kurzem in seiner Bedeutung skizziert, siehe dérive Nr. 71. Die Verbindung der österreichischen Planungsszene zur internationalen Moderne, zum CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne 1928–59) wird insbesondere mit zentralen ProponentInnen der Zwischenkriegszeit, insbesondere mit Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte verbunden, aber nicht als sonderlich prägend empfunden. Die moderate Moderne der Nachkriegszeit hat – vielleicht mit Ausnahme des Ringturms – auch keine Ikonen hinterlassen, die sich im kollektiven Gedächtnis verfestigen konnten. Die Nachkriegsjahre galten so auch in der Architektur- und Stadtgeschichte lange als grau und uninteressant. Siedlungen der 1950er, 60er und 70er Jahre, die schon eine maßgebliche Entwicklungsschicht der Wiener Stadtstruktur bilden, wurden erst jüngst stärker in den Fokus genommen und in ihrer aktuellen Bedeutung diskutiert. Kontrovers diskutiert wurden bisher vor allem spätere Großprojekte aus den 1970ern, wie der Wohnpark Alt Erlaa.
Die Ausstellung Kalter Krieg und Architektur nimmt einen strategischen Perspektivenwechsel vor, um die beschriebene Wahrnehmungslücke zu füllen. Die Nachkriegszeit wird nicht von innen, in Form einer Nabelschau beleuchtet, sondern gleichsam im internationalen Kontext, repräsentiert durch die Kulturinterventionen der alliierten Besatzungsmächte. Die von vier Nationen – USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien – kulturell wie auch territorial geprägte Besatzungszone (1945–55) in Österreich bzw. in Wien wird in ihrer Bedeutung als Kulturimport, der auch den Architektur- und Stadtdiskurs nachhaltig prägte, vorgestellt. Der Kalte Krieg bildet das dystopische Szenario, das die lokale Gemengelage später global fortsetzen sollte.
Im Konflikt zwischen Kommunismus und liberaler Marktwirtschaft, repräsentiert durch die Sowjetunion auf der einen und die Westalliierten auf der anderen Seite, hat Österreich bekanntlich früh für eine Seite optiert. Man war westlichen Einflüssen gegenüber offen, die sowjetrote Besatzungszone nahm man hingegen primär als Bedrohung war. Die Sozialdemokratie war dabei, sich von ihren austromarxistischen Wurzeln zu entfernen, die in der Zwischenkriegszeit noch grundlegend gewesen waren und orientierte sich nun am liberalen Wohlfahrtsstaat westlichen Zuschnitts. Auch die Konsumkultur, die über den Atlantik nach Europa exportiert wurde, nahm man als Chance war. Der Kalte Krieg war nicht zuletzt mit einer Coca-Colonization verbunden, wie der Salzburger Zeithistoriker Reinhold Wagnleitner das Phänomen dieser Kulturinvasion bezeichnete. Die 1968er-Generation sollte in einer Hand die neue Beatles-Platte und in der anderen ein (meist noch ungelesenes) Buch von Adorno halten, ohne das als Widerspruch zu empfinden. Auch die Protagonisten der Architekturavantgarde der 1960er, des Austrian Phenomenon – Hollein, Coop Himmelb(l)au, Domenig und Co. – kämpften gegen das Architekturestablishment, waren aber gleichzeitig von der Konsumkultur infiziert – Kritik am Zeitgeist und Affirmation desselben waren ineinander verwoben.
Der Einfluss der USA auf den hiesigen Planungsdiskurs und das Bauwesen bezog sich, wie die Ausstellung deutlich macht, in erster Linie auf neue Versuche einer Industrialisierung des Bauens im Sinne eines Neofordismus. Das aus vorgefertigten Elementen errichtete Einfamilienhaus kann so als amerikanische Variante moderner Architektur gelten: Individualität in Serie. Die Rationalisierung des Bauens war auch ein zentrales Motiv der Moderne gewesen, die in der Zeit der Besatzung nun vor allem durch den Einfluss der französischen Zone wieder ins Gespräch kam. Mit dem CIAM assoziierte Ausstellungen und Vorträge wurden ambivalent aufgenommen – die verhaltene bis kritische Rezeption wird in der Ausstellung nachvollziehbar gemacht. Die Visionen Le Corbusiers, der auch in Wien Vorträge hielt, wurden mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis aufgenommen. Die Radikalität seiner Stadt- und Architekturvisionen war mit der Wiener Bedächtigkeit nicht kompatibel. Nach 1945 war Österreich zwar weiterhin mit CIAM AUSTRIA an Kongressen beteiligt, allerdings fanden die maßgeblichen ProponentInnen der österreichischen Delegation wie Wilhelm Schütte, Margarete Schütte-Lihotzky, Eduard Sekler oder Walter Loos zuhause nur wenig Gehör, was sicher auch mit dem grassierenden Antikommunismus jener Zeit zu tun hatte. Die junge Generation, vertreten durch die Arbeitsgruppe 4 – Johannes Spalt, Friedrich Kurrent, Wilhelm Holzbauer und Otto Leitner – sollten nur ein kurzes Gastspiel im CIAM (La Sarraz 1955) haben.
Die anfängliche Faszination, die mit Leitfigur Le Corbusier verbunden war, sollte bald einer Rückbesinnung auf die lokale Moderne und deren Protagonisten, insbesondere auf Adolf Loos und Josef Frank weichen. Auch die städtebaulichen Konzepte Otto Wagners, des visionären Stadtdenkers der österreichischen Moderne, blieben vergleichsweise im Hintergrund.
In Ausstellung und Katalog werden implizit einige interessante Fragen aufgeworfen. Warum gab es in der Nachkriegsavantgarde, die sich im Laufe der 1950er Jahre hierzulande formierte, einen Fokus auf Objektplanung und kaum visionäre städtebauliche Ansätze? In vielen Ländern war das anders. Das international zusammengesetzte Team X – die Smithsons (England), Jacob Bakema und Aldo van Eyck (Niederlande) sowie Giancarlo De Carlo (Italien) – bildeten sich rund um den letzten CIAM-Kongress in Otterlo 1959, den die Gruppe organisiert hatte. Alle Beteiligten waren Mitglieder des CIAM gewesen und hatten von innen heraus dessen Dogmen kritisiert und überwunden. Doch auch das Team X, das sich vermehrt spezifischen kulturellen und lokalen Gegebenheiten zuwenden wollte und sich insbesondere für prozesshafte Formen der Raumproduktion interessierte, hielt später an einer parallelen, simultanen Betrachtung von Architektur und Städtebau fest, die kennzeichnend für den CIAM war. In Österreich etablierten sich Raumplanung, Städtebau und Architektur nach 1945 zunehmend als getrennte Sphären, trotz aller Vermittlungsversuche, die bis heute andauern. Die Megastrukturen, die etwa der Franzose Yona Friedman und die britische Gruppe Archigram entwarfen, teilten die Faszination für urbane Phänomene. Hans Holleins visionäre Großformen der 1960er erscheinen dagegen skulptural und im Objekt verhaftet und nur weniger am Organismus Stadt interessiert.
Die Ausstellung zeigt auch, wie einflussreich in den Nachkriegsjahren die Auseinandersetzung mit der Planungskultur in Großbritannien war. Der Greater London Plan (1944) wurde schon früh rezipiert. Während sich London damals als Stadtregion neu zu erfinden suchte und sich schließlich als Greater London Council 1965 auch auf der Verwaltungsebene formierte, war das Groß-Wien, das sich unter der Nazidiktatur gebildet hatte, wieder auf ein engeres, den Wahlbezirken entsprechendes Gebiet reduziert worden. Dieses, etwa im Vergleich mit anderen Großstädten wie Berlin, doch kleine Stadtgebiet, hatte zur Folge, dass man sich früh um eine regionale Kooperation zwischen Wien und Niederösterreich bemühen musste. In der kurzen Ära Brunner – Karl Heinrich Brunner leitete von 1948–51 die Wiener Stadtplanung – interessierte man sich so auch für das britische Konzept der New Towns, der Neugründung unabhängiger Planstädte, die das Wachstum der Großstädte abmildern sollten. Der Wiener Weg war aber ein anderer. Brunner setzte auf die relative Autonomie von Nachbarschaften und Gemeinden an der Peripherie der Stadt, ohne dass diese sich vollends von Wien emanzipieren sollten. Auch das englische Gartenstadtmodell wurde als Leitbild immer wieder herangezogen, insbesondere unter Roland Rainer (Stadtplaner von Wien 1958–63). Die Konzeption der gegliederten und aufgelockerten Stadt, die auch in der NS-Zeit verfolgt und propagiert wurde, konnte so recycelt und auf fragwürdige Weise ideologisch saniert wieder ins Spiel gebracht werden. So wirkte die Reserve gegenüber einer von Dichte und Urbanität geprägten Großstadt, bzw. auch die unverhohlen anti-urbane Doktrin der Nazis weitestgehend unbemerkt fort.
Die Ausstellung Kalter Krieg und Architektur besticht durch eine eloquente Ausstellungsarchitektur und ein präzises Designkonzept und wird so auch zur sinnlichen Erfahrung. Den vielfältigen Ausstellungsstücken – Plänen, Skizzen, Modellen, Möbeln – wird ausreichend Raum gegeben. Das Verhältnis von Text und Bild ist auffallend ausgewogen. Wie die Ausstellung ist auch der Ausstellungskatalog zu empfehlen. Räumliches Display und Publikation ergänzen einander auf ideale Weise.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.