»Life Codes«, Diagramme und Schwarzweißkopien
Besprechung von »Art and Social Function« von Stephen WillatsStephen Willats
Art and social function
London 1976/2000 (Ellipsis)
£ 15,-
Kürzlich erschien die Neuausgabe eines wichtigen Textes der Konzeptkunst, der gleichzeitig für Urbanismus und Soziologie von Bedeutung sein kann, da sein Autor Stephen Willats ein frühes Beispiel für die produktive Überschreitung der Grenzen zwischen ebendiesen Disziplinen ist. 1965 verwirklichte er seine erste Arbeit, in die er die BewohnerInnen einer Wohnanlage in Ipswich einbezog, in den folgenden Jahren entwickelte er noch weitere Projekte, von denen drei im nun vorliegenden Band ausführlich beschrieben sind. Willats sieht die Dokumentation dieser Arbeiten als eine Art Leitfaden für jedeN KünstlerIn, der/die mit seiner/ihrer Arbeit im »sozialen Gewebe der Gesellschaft« intervenieren möchte.
Das erste Projekt untersucht anhand von vier genau abgegrenzten Gebieten in West-London die Gestaltung von Lebensumfeld und die Wahrnehmung urbaner und sozialer Strukturen durch die BewohnerInnen. Willats bezeichnet seinen Fokus mit »coding structures«, also gesellschaftlichen Kodierungen, die in Verhaltensweisen, sozialem Umgang und ästhetischen Vorlieben wie Gartengestaltung ihren Ausdruck finden. Durch die Interaktivität des Projekts erhofft er sich bei den TeilnehmerInnen eine Reflexion der eigenen »Kodierungen«, die auch die Möglichkeit von Veränderungen beinhalten.
Die konkrete Vorgangsweise gliederte sich in mehrere Phasen. Die erste Phase war eine Bestandsaufnahme, in der die vier in ihrer sozialen Struktur stark unterschiedlichen (von unterer bis gehobener Mittelklasse), in ihrer jeweiligen Abgeschlossenheit aber vergleichbaren Zielgebiete ausgewählt wurden. Darauf folgte eine Phase, in der TeilnehmerInnen für das Projekt gefunden werden mussten. Dies erledigte ein größeres Team von BetreuerInnen, das von Tür zu Tür ging, um Interesse für das Projekt zu wecken. Die Reaktionen der angesprochenen Menschen waren sehr unterschiedlich, ebenso ihre Haltung zum Kunststatus der Aktion. Diese Reaktionen sind aber nur als Sekundärinformation ins Buch eingeflossen, primäres Dokumentationsmedium waren nämlich Fragebögen.
Ein erstes Set, das West London Manual, enthielt vorwiegend deskriptive Fragen nach der unmittelbaren Umgebung, nach Assoziationen, Bestandsaufnahmen vom räumlichen Verhältnis zu öffentlichen Einrichtungen oder markanten, identifikatorisch wichtigen Punkten. Nachdem eine befriedigende Anzahl von Menschen sich bereit erklärt hatte teilzunehmen, wurden die von ihnen ausgefüllten Fragebögen gemeinsam mit denen anderer Zielgebiete in öffentlichen Bibliotheken in der Nachbarschaft der jeweiligen Gebiete ausgestellt, was Vergleiche und Reflexion über die eigene Position der TeilnehmerInnen ermöglichen sollte. Schließlich wurde ein weiteres Set von Fragebögen ausgeteilt, diesmal mit Aufgaben, die eine utopischere Zugangsweise der Beteiligten herausfordern sollte. Die Ergebnisse dieser Befragung wurden wiederum ausgestellt, wobei es diesmal die Möglichkeit gab, mittels Stimmzettel für Vorschläge abzustimmen. Diese Konsensmodelle zu Fragen des Layouts von Wohnsiedlungen, zur idealen Form des öffentlichen Verkehrs oder kultureller Einrichtungen wurden abermals zu einem Heft zusammengefasst, an alle Beteiligten verteilt und in den Bibliotheken aufgelegt.
Die zwei weiteren Projekte, die das Buch vorstellt, verfolgen ähnliche Ziele, hier liegt das Hauptaugenmerk jedoch auf zwischenmenschlichem Verhalten in Familie/Gemeinde (The Edinburgh social model construction project) bzw. Kunstraum (Meta Filter).
Bis heute beschäftigt sich Willats in seinen Arbeiten mit Gruppen von Menschen und ihren Wahrnehmungen, Wünschen, Erfahrungen. Dabei geht es darum, ein Handlungsfeld zu besetzen, das jenseits eines eingeweihten Kunstpublikums Wirkung entfalten kann und das Kunstwerk als Interaktionsobjekt zwischen BetrachterIn und KünstlerIn öffnet. Darin ist eine Befragung der eigenen AutorInnenschaft zugunsten anderer Beteiligten zwar explizit enthalten, allerdings bleiben MitarbeiterInnen stets ungenannt. Auch haben Willats Arbeiten eine eigene, wiedererkennbare · grafische Sprache entwickelt. Der Mythos der neutralen (»unformalen«) Informationsästhetik der Konzeptkunst ist schließlich längst widerlegt und so kann das Buch (quasi subversiv) auch als visueller Leitfaden für Formulardesign, Diagramme und Schwarz/Weißcollagen benutzt werden.
Stephen Willats
Art and social function
London 1976/2000 (Ellipsis)
£ 15,-
Andreas Fogarasi ist bildender Künstler und Redakteur von dérive.