Lo Urbano übersetzen. Lernen von der lateinamerikanischen Stadtforschung
Besprechung von »Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios« herausgegeben von Anne Huffschmid und Kathrin WildnerDas Blickfeld über die eigene Karte der Stadtforschung hinaus zu neuen Wissensgeographien öffnen: Das ist ein dringlicher Appell an alle, die sich heutzutage kritisch mit städtischen Fragen beschäftigen, spätestens seit Jennifer Robinsons Publikation Ordinary Cities: Between Modernity and Development von 2006. Doch wie soll diese Dezentrierung der Wissensherstellung in der Praxis bewerkstelligt werden? Einen anschaulichen Vorschlag dazu bringen nun Anne Huffschmid und Kathrin Wildner mit ihrer gemeinsamen Herausgabe von 22 erstmalig in deutscher Sprache veröffentlichter Essays einflussreicher lateinamerikanischer StadtforscherInnen. Mit Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios laden sie zu einem anderen Nachdenken über die lateinamerikanische Stadt ein. Die treibende Frage der Herausgeberinnen ist damit gesetzt: »Inwiefern kann Urbanität in Lateinamerika tatsächlich als etwas Eigenes, Anderes, Spezifisches verstanden werden?« Dabei geht es ihnen nicht bloß um die spezifische Erscheinungsweise des Urbanen, sondern geradeso um theoretische und methodologische Zugänge, die sich in einer lateinamerikanischen Auseinandersetzung mit der eigenen städtischen Entwicklung herausgebildet haben.
Der erste von zwei Teilen des Bandes ist konzeptionellen Zugängen und theoretischen Referenzen gewidmet. Die Autorinnen und Autoren spüren den eigenen Denktraditionen nach und zeigen ihre eigene Praxis einer produktiven und kritischen Auseinandersetzung mit westlich geprägter Theorie auf. Hier begleitet beispielsweise César Abilio Vergara Figueroa Marc Augé in die Metro von Mexiko-Stadt, Fraya Frehse lädt Henri Lefebvre zum Verweilen auf einem zentralen Platz in São Paulo ein oder Paula Soto Villagrán diskutiert mit Doreen Massey Genderfragen des lateinamerikanischen urbanen Raums. Der zweite Teil bringt Beiträge zu aktuellen Forschungsfeldern des städtischen Lateinamerika. Darin besprechen die Autoren und Autorinnen in ausgewählten empirischen Arbeiten ihre methodologischen Zugänge und zeigen, wie sie durch Reibung mit bestehenden Konzepten wie beispielsweise der Informalität eigenständige oder auch neue Begriffe aus der Praxis heraus entwickeln.
Ein von den Herausgeberinnen vorgeschlagener, vielversprechender Ausgangspunkt, um Eigenheiten der lateinamerikanischen Stadtentwicklung herauszuschälen, ist die Gegenüberstellung von Urbanisierungsprozessen und den jeweiligen Modernisierungsprojekten der Nationalstaaten. Dadurch kristallisieren sich wichtige historische Parallelen zwischen verschiedenen lateinamerikanischen Megalopolen wie São Paulo, Rio de Janeiro, Buenos Aires und Mexiko-Stadt heraus. Gerade diese vergleichbaren historischen Prämissen der urbanen Entwicklung des Kontinents legitimieren die Frage nach den gemeinsamen Kategorien und den vergleichbaren Zugängen, die sich daraus für die Gegenwart ergeben.
Die Autoren und Autorinnen haben ganz unterschiedliche Positionen im akademischen Feld, und dementsprechend weisen sich die Beiträge durch eine große Bandbreite von Forschungspraxen aus. Allen gemein ist eine Affinität zur empirischen qualitativen Auseinandersetzung mit städtischen Fragen. Schlüssig betonen demnach die Herausgeberinnen die zentrale und besondere Rolle der Stadtethnologie für die aktuelle Stadtforschung Lateinamerikas. Die Lektüre der Essays zeigt, dass neben solchen konzeptuellen, methodischen und historischen Achsen die Fokussierung auf übergreifende Themenfelder aufschlussreich ist, um weitere Eigenheiten einer verorteten und zugleich verallgemeinerbaren lateinamerikanischen Stadtforschung zu skizzieren. Sicherheit und Militarisierung des Urbanen, Transformationsprozesse historischer Stadtteile oder Mobilität werden im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln als zentrale Themen urbaner Szenarien Lateinamerikas aufgegriffen. Einen besonderen Stellenwert erhält dabei der öffentliche Raum, in dem Ungleiches und Verschiedenes aufeinandertrifft und dessen Bedeutung und Nutzung von den beteiligten Subjekten alltäglich ausgehandelt wird. Dabei zeigen die Autorinnen und Autoren diesen Raum nicht als neutralen Boden aller StadtbewohnerInnen, sondern als einen von
Konflikten, Ausschlüssen und Zugangskontrollen durchzogenen. Das Recht auf Stadt wird somit als Recht auf Teilhabe an Gesellschaft lesbar. Die Kultur des Öffentlichen wird zur widerständigen Strategie entgegen der verschärften Fragmentierung vieler lateinamerikanischer Städte. Diese spezifische Erfahrung zeigt, dass ein erneut räumliches Denken und eine territoriale Verortung von Öffentlichkeit und Widerstand solche Strategien stärken können (mehr dazu auch im 2011 erschienenen Buch Territorien des Widerstands. Eine politische Kartographie der urbanen Peripherien Lateinamerikas des Argentiniers Raúl Zibechi).
Städtischer Raum wird gedacht, gebaut, benutzt und dadurch fortlaufend hergestellt. Der so hergestellte Raum prägt wiederum, wie über ihn nachgedacht wird, wie er gelebt wird und in welcher Form er sich materialisiert. Der Sammelband zeigt praxisbezogen, wie der urbane Raum die Vorstellung des Städtischen (hier dem lateinamerikanischen Kontext entsprechend als Lo Urbano bezeichnet) prägt. Huffschmid und Wildner können und wollen mit ihrem Buch keine essentielle Differenz der lateinamerikanischen Urbanität konstatieren. Vielmehr stellen sie eine lateinamerikanische Stadtforschung vor, die von einer geteilten urbanen Erfahrung zehrt, jedoch wie überall sonst von divergierenden disziplinären Perspektiven, politischen Positionierungen und empirischen Erfahrungen geprägt ist. Hier wären im Sinne einer Lesehilfe mehr Informationen zur wissenschaftlichen Verortung der Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge selbst wünschenswert. Das vorliegende Buch weist dennoch klar auf eine Konsequenz dieser Konzeptualisierung des Städtischen für die Stadtforschung selbst hin: Zur spezifischen Verortung der urbanen Frage ist die Positionierung der Wissensproduzentinnen und –produzenten unabdingbar. Die geographische, historische und methodische Kontextualisierung von Theoriebildung ist Grundbedingung der fruchtbaren Reibung mit anderen Denktraditionen. Die Umkehrung der Blickrichtung und die Überwindung der sprachlichen Barriere (sprich: die Übersetzung zentraler Beiträge der lateinamerikanischen Stadtforschung) ist ein gelungener erster Schritt für eine solche Auseinandersetzung.
Monika Streule