Marseille und seine Rapper
Besprechung von »Vom Planeten Mars. Rap in Marseille und das Imaginäre der Stadt« von Daniel TödtHafenstädte haben eine besondere Aura und einen ihnen vorauseilenden Ruf, der das Image dieser Städte nachhaltig prägt. Deshalb ist dieser Typ von Städten für die Stadtforschung ein interessantes Untersuchungsfeld. Neuere Publikationen versuchen eine Differenzierung in das etwas grobe Bild von Hafenstädten zu bringen. So widmen die Soziologen Helmuth Berking und Jochen Schwenk (2011: Hafenstädte. Rostock und Bremerhaven im Wandel. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag) dem Vergleich der Hafenstädte Rostock und Bremerhaven einen ganzen Band, um das jeweils eigene der beiden Städte herauszuarbeiten. Marseille hat ebenfalls einen speziellen Ruf als Hafenstadt und second city Frankreichs. Nicht nur, dass sie bei einem Durchschnittseuropäer Assoziationen wie Verbindungsbrücke zu Nordafrika und Sommerurlaub hervorruft. Die Millionenstadt an der französischen Mittelmeerküste sticht vor allem durch die Einbettung in popkulturelle Diskurse und Bilder hervor. Sie ist vor allem in der 1970er Jahren Ort für Gangsterfilme und eine Art französisches Chicago. Dieses Image hat Beständigkeit, denn es tradiert sich in die Jugendkultur des Hip Hop der 1990er Jahre weiter. Dies ist Anlass genug für den Ethnologen Daniel Tödt, diesem Phänomen eine Untersuchung zu widmen und Marseille von der popkulturellen Seite her seine Eigenart zu entlocken. Dieses interessante Unterfangen setzt an der Hip-Hop-Kultur – genauer dem Rap – Marseilles der 1990er Jahre an, die sich in einem besonderen Maße durch einen großen kommerziellen Erfolg in Frankreich und in den internationalen Charts auszeichnete. Frei nach Etienne Balibar soll der Rand der Gesellschaft (Rap aus Marseille) helfen, deren Mitte (die Eigenart Marseilles) zu verstehen.
Unter diesen Ausgangsbedingungen wundert es nicht, dass der Autor sein Werk wie eine (Hip-Hop-)LP aufbaut und mit einem Intro und Outro versieht. Das verrät zweierlei: Zum einen haben wir es hier mit einem souveränen und intimen Kenner der Materie zu tun, der Marseille und die Hip-Hop-Szene versteht, als wäre er identitär mit ihr verschmolzen. In der Tat schlägt die Emphase des Autors zeitweilig in ein Einswerden mit dem Untersuchungsobjekt um, was jedoch zu keinem Zeitpunkt problematisch wird. Zum anderen liegt es nahe,
die Eigenart Marseilles durch die Darstellungsart des Materials mit abzubilden. Dieser methodologische Kniff ist
dem Untersuchungsobjekt geschuldet
und angemessen.
Theoretisch zentral sind die Arbeiten des Soziologen Rolf Lindner, der zum Imaginären der Stadt und der kulturellen Textur der Stadt die Stichworte gibt. Mit Lindner bettet der Autor ein oberflächlich betrachtetes Zeitgeistphänomen in eine lange Erzählung einer Stadt ein, die verdichtet zum städtischen Imaginären führt, welches robust historisch und kulturell in das Leben einer Stadt verankert ist. Diesen Nachweis führt der Autor am Beispiel der Musik, von Texten und Videos der Band IAM. Er hält sich an diesen eingeschlagenen Pfad und folgt seinem akademischen Mentor mit eigenem Zungenschlag. Bezüge zu weiteren Stadtforschungspositionen oder ein verstärktes Einbinden anderer, aktueller Lebensbereiche und Diskurse hätten jedoch das Bild um weitere Facetten erhellen können.
Was erfährt man nun über Marseille? Marseille ist in der Tat zunächst durch den Hafen geprägt. Er signalisiert sowohl den Ursprung der Stadt als antike Gründung als auch seine moderne Verfasstheit. Aber auch die dunkle Seite der Stadt wird hierdurch angezeigt: Drogenumschlagplatz, Kriminalität und mafiöse Strukturen sind ebenfalls Teile von Marseille. Diese Spannung ergibt ein besonders produktives Umfeld für popkulturelle Kreative, womit geklärt ist, weshalb die Hip-Hop-Band IAM und ihr Schaffen in den 1990er Jahren im Zentrum der Untersuchung stehen. Für Außenstehende auf diesem Feld scheint die Fallauswahl kurios, jedoch ist IAM im Untersuchungszeitraum so etwas wie das Sprachrohr Marseilles. Marseille, als second city und mit einem Gangsterimage behaftet, hat zu diesem Zeitpunkt keinen einfachen Stand innerhalb Frankreichs und fühlt sich im zentralistischen System marginalisiert. Es ist nicht nur zweite Stadt, sondern auch (medialer) Prügelknabe der Grande Nation, wenn es um soziale Brennpunktthemen geht. Aber die Marseiller Tradition des Rebellentums – es sei nur auf die Geschichte der Marseillaise verwiesen – führt zu einer spezifischen Reaktion, die sich maßgeblich im Hip Hop dieser Zeit artikuliert. Hits der Band IAM wie Independenza werden zu Stadthymnen, gerade weil sie eine Gegenposition zum Wettbewerber Paris einnehmen. Aber nicht nur deswegen:
Die Bezüge zu anderen Städten sind nicht minder wichtig. Die Hafenstädte New York, Neapel und Algier kreieren einen neuen Bezugsraum außerhalb der Nation. In den städtischen Diskursen wird das Lokale dominant, die Nation geradezu die Gegnerin. Diese starke Bindung an die eigene Stadt und das eigene Stadtviertel wird durch eine eigentümliche Melange erklärt: MigrantInnen, vor allem aus Nordafrika, mit hybriden Identitäten sowie die Milieus mit spezifischen Stadtfiguren prägen Marseille. Der Hafen, Innenstadt und die Hochhaussiedlungen sind die Orte. IAM werden zum legitimen Vertreter Marseilles, gerade weil sie die vielen hybriden Facetten der Stadt – ville rebelle und porte d’orient – musikalisch und ästhetisch vereinen und damit erfolgreich in Szene setzen können. Eine Stadt, die in den 1980ern mit rückläufiger Einwohnerzahl zu kämpfen hatte, brachte dies neues Selbstbewusstsein. Marseille ist ein förderlicher Ort für Hip Hop, da sich hier glaubhaft seine Themen mit den Themen dieser spezifischen Stadt (Drogen, Jugendkriminalität, Migration etc.) verbinden lassen.
Wer sich für eine solche städtische Konstellation interessiert, kann das Buch mit Gewinn lesen. Es ist kurzweilig geschrieben und bebildert. Nur hätte es eine bessere Qualität sowohl bei Bildern als auch beim Layout (teilweise muss man Fußnoten suchen) verdient. Und ob so manches französische Zitat nicht hätte besser übersetzt werden sollen, kann ebenfalls diskutiert werden. Es bleibt aber der besondere Vorzug des Buches, auf Desiderate in der Stadtforschung hinzuweisen: Randständiges in den Blick zu nehmen, neue Städtevergleiche zu wagen. Und was sich zeigen könnte, ist enorm erhellend: Vielleicht hat Marseille mehr mit seinem Städtepartner Piräus gemeinsam als mit Lyon. Der Rapvergleich könnte Aufschluss geben.
Georgios Terizakis