Mehr als Belanglosigkeiten
Besprechung von »Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum.« von Vittorio Magnago LampugnaniVittorio Magnago Lampugnani
Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum.
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2019
192 Seiten, 30,90 Euro
Er ist ein Augenöffner, stets wachsam und unermüdlich neugierig in allen urbanistischen Dingen. Vittorio Magnano Lampugnani, renommierter Architekturtheoretiker und -historiker, emeritierter Professor an der ETH Zürich, hat ein neues Buch geschrieben. Diesmal über jene zahlreichen Objekte, die den öffentlichen Raum prägen und uns vielfach so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie nur selten wahrnehmen. Und auch nur selten daran denken, dass sie eine teils weit zurückreichende Geschichte haben.
Diese wurde im historisch-urbanistischen Diskurs bislang sträflich vernachlässigt. Zwar gab es bereits ab den 1980er-Jahren in einzelnen Städten Versuche, die Genese ihrer jeweiligen Kleinarchitekturen aufzuarbeiten, etwa in Berlin, Paris oder Zürich; und auch für Wien liegen mittlerweile einige Einzelstudien dazu vor, unter anderem – in aller Bescheidenheit sei dies angemerkt – vom Autor dieser Zeilen. Eine zusammenfassende Gesamtschau fehlte jedoch bislang. Diese Lücke wurde nun erstmals profund und kennerhaft geschlossen.
Der Titel von Lampugnanis Buch ist natürlich kokett, eigentlich ein Oxymoron, aber er spannt recht gut den Bogen, in den die Straßenmöbel wahrnehmungs- und stadthistorisch einzubetten sind. Sie sollen auffallen, aber nicht zu viel, und einen funktionalen Beitrag zur Nutzung der Stadt leisten. Belanglos sind sie keinesfalls, wie wir gleich am Anfang des Buchs erfahren: »Die Mikroarchitekturen, Stadteinrichtungsgegenstände und Grundelemente sind nicht nur Dinge, die den Stadtraum ergänzen oder verstellen, verschönern oder verunstalten und seinen Charakter entscheidend mitbestimmen. Sie sind weitgehend autonome Gegenstände, die, sieht man genauer hin, eigene Geschichten haben und diese auch erzählen.« Und sie geben auch, wie Lampugnani betont, genauen Einblick in das Wesen jener Stadt, in der sie stehen.
Seine Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die europäische Stadt, der Zeitraum spannt sich von der Antike bis heute. Mit Schwerpunkt allerdings auf das 19. Jahrhundert, als mit dem Aufstieg des Bürgertums und einem gewaltigen Urbanisierungsschub sich auch die Rolle des öffentlichen Raums neu definierte. Walter Benjamins bekanntes Diktum von der »Wohnung des Kollektivs« drückte dies treffend aus. Wie im privaten Bereich, galt es nun, die Straßen und Plätze neu einzurichten und jenen Erfordernissen anzupassen, die für die Menschen der modernen Metropolen relevant waren. Essen, trinken, informieren, ausruhen bis hin zum Notdurft verrichten, all diese Funktionen verlagerten sich zunehmend in die öffentliche Sphäre. Welche Objekte man dazu benötigte und bis heute benötigt, wie diese ausgestaltet sind und wie wir von ihnen gleichsam Handlungsanleitungen erfahren, ist Teil des europäischen Zivilisationsprozesses, der auch – aber natürlich nicht nur – ein Disziplinierungsprozess ist. Der Stadtraum wurde zur Bühne, inszeniert und ausgestattet mit Requisiten, und diese fungieren, so der Autor, als »Erkennungszeichen für die politische, ideologische, religiöse, soziale, hygienische, technische, ökonomische und kulturelle urbane Entwicklung.«
Drei Kategorien werden in der Folge unterschieden: Mikroarchitekturen, Objekte und Elemente. Zu ersteren gehören etwa Kioske, Trinkhallen, Bedürfnisanstalten, Telefonzellen, Haltestellen oder Metroeingänge. Als Objekte werden sodann Denkmäler, Brunnen, Bänke, Lichtmasten, Uhren, Poller, Abfallkörbe, Litfaßsäulen, Ampeln sowie Straßen- und Hausnummernschilder behandelt. Und bei den Elementen geht es schließlich um Themen wie Schaufenster, Einfriedung, Bürgersteig, Bodenbelag inklusive Schachtdeckel. Eine überaus breite Palette also, die allein schon offenbart, wie sehr sich das urbane Leben im Lauf der Jahrhunderte differenzierte – und auch verkomplizierte. Zwar vermisst man manche Dinge, Briefkästen etwa, Personenwaagen, Warenausgabeautomaten bis hin zu Bankomaten oder auch die Fülle der Verkehrszeichen, Lampugnani bekennt sich aber zu einer bewusst subjektiven Auswahl, bei der es nicht nur um typisch und bedeutsam ging, sondern auch Neugier und Narrationspotential eine Rolle spielten. Sehr instruktiv ist, dass er sein Thema weit fasst und auch die Begrenzungsflächen des Raums mit einbezieht, mit denen die Objekte in intensiver Beziehung stehen. Den Boden und die Wände also, die Dermatologie der Stadt, die ja ihre eigentliche Materialität ausmacht und von entscheidender sinnlicher Wirkung auf die Stadtmenschen ist.
Die konkret geschilderten Beispiele entstammen den damals wie heute führenden Metropolen, London, Paris, Berlin, Wien, Moskau oder Rom. Recht deutlich wird, wie sehr sie alle vor ähnlichen urbanistischen Anforderungen standen. Etwa auf dem Gebiet der Kommunikation, wo mit der 1855 erfundenen Litfaßsäule erstmals ein adäquates Massenmedium zur Verfügung stand, das sich von Berlin aus in ganz Europa verbreitete. Oder die bislang weitgehend unerforschte Geschichte der Metroeingänge, die mit Hector Guimards Entwürfen für Paris emblematisch und identitätsstiftend wurden, aber auch in anderen Städten bemerkenswerte Varianten zeitigten. Klar wird im Städtevergleich auch, wie hoch schon im 19. Jahrhundert die Städtekonkurrenz war, der Wettbewerb der Metropolen untereinander und ihre gegenseitigen, auch stilistischen Beeinflussungen. Der Know-how-Transfer auf diesem Gebiet war gewaltig, nicht zuletzt, weil diese kleinen Dinge zu jenen gehören, die den Besucher*innen als erstes ins Auge springen. Das Bild der Stadt also entscheidend (mit)prägen.
Auch die Frage der Orientierung ist damit eng verbunden und wird am Beispiel der Stadtorganisation durch Straßenbeschilderung und Hausnummerierung auch in ihrer politischen Dimension geschildert. Eine Geschichte, die ja mittlerweile für Wien von Anton Tantner ausgezeichnet aufgearbeitet ist.
Wiener Beispiele kommen mehrmals vor: beim Thema Stadtuhren etwa die noch heute durch ihr modernes Design beeindruckenden, zu Stadtikonen gewordenen Würfeluhren, bei den Toiletten die unterirdische Bedürfnisanstalt am Graben, beim Schaufenster der in unmittelbarer Nachbarschaft davon liegende Herrenschneidersalon Knize, dessen Glasvitrinen-Eingang von Adolf Loos gestaltet wurde, oder als jüngeres Beispiel die multifunktionalen Liegemöbel der Enzis, die auch international für Furore sorgten. Zumeist ist es ein Blick zurück auf die staunenswerte Vielfalt der einst existierenden Objekte, von denen sich oft nur mehr wenige im Stadtbild erhalten haben. So ist es ein weitgehend nostalgisches Buch geworden, die Gegenwart bleibt im Vergleich dazu deutlich unterbelichtet. Was schade ist, wären doch gerade im Zuge der aktuellen Debatten zur Kommerzialisierung und Digitalisierung des öffentlichen Raums viele neue spannende Objekte zu beforschen, von Internet-Hotspots bis zu großformatigen Displays für Bewegtbildwerbung.
Nichtsdestoweniger erfreuen die feine und gut ausgewählte Bebilderung des Buchs, die anschauliche Sprache und der differenzierte Literaturüberblick, der Lust auf weitere Forschungen auf diesem Gebiet macht.
Peter Payer, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.
Markdown aber keine Medien. Last, First (Hg.): The Title, City 2000