Memory takes place. Erinnerungskulturen in Mexiko-Stadt und Buenos Aires im Vergleich
Besprechung von »Risse im Raum« von Anne Huffschmid2015 – siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs läuft die Erinnerungsforschung auf Hochtouren. In der Fülle deutschsprachiger Publikationen zum Gedenkjahr lädt das Buch Risse im Raum. Erinnerung, Gewalt und städtisches Leben in Lateinamerika zu einem in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Nachdenken über Erinnerungsräume ein. Die Kulturwissenschaftlerin und Lateinamerika-Spezialistin Anne Huffschmid fragt darin nach der Räumlichkeit des Erinnerns und verbindet dadurch Ansätze der Erinnerungsforschung mit Fragen der Stadtforschung. Wie kann der spatial turn für die Erinnerungsforschung fruchtbar gemacht werden? Oder, anders gefragt: Wie produzieren Erinnerungsprozesse Raum? Ungewohnt sind auch die gewählten Forschungsfelder und der Zugang dazu: Eine vergleichende Studie der Erinnerungskulturen in Mexiko-Stadt und Buenos Aires, die mit klarem Schwerpunkt auf den repressiven siebziger Jahren Kontinuitäten bis zur aktuellen Gewaltgeschichte in Mexiko aufzeigt. »Wir haben nicht nur eine verdrängte Vergangenheit, wir haben auch eine verdrängte Gegenwart.“«
Risse im Raum konfrontiert die Leserin mit der heutigen Materialität und der Alltäglichkeit der Erinnerung an staatlich organisierte Gewalt gegen die politische Opposition. Anne Huffschmid stellt die beiden Metropolen Buenos Aires und Mexiko-Stadt als »diametrale Pole lateinamerikanischer Geschichtskultur« vor, in denen sich vergleichbare Gewalterfahrungen höchst unterschiedlich im städtischen Raum materialisieren. Dabei dient die Spezifik der jeweils einen städtischen und politischen Konstellation als Kontrapunkt für die Befragung und Erkundung der jeweils anderen. Den Vergleich beginnt Huffschmid aber mit einer Selbst-Verortung in Berlin. Von dieser weltweit paradigmatischen »Memory-Metropole« aus richtet sie ihren Blick auf Erinnerungsorte und Gedenkstätten in Lateinamerika. Die Erinnerungsszenarien von Mexiko-Stadt und Buenos Aires sind dabei in ihren historischen und politischen Parallelen, aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit auf vielfältige Weise miteinander verflochten.
Exemplarisch dafür ist die staatliche Erinnerungspolitik Mexikos, die die ambivalente Rolle der Regierung bis heute ausblendet: Der ehemalige mexikanische Präsident Luis Echeverría (1970-76) erlaubte politischen Flüchtlingen aus ganz Lateinamerika, insbesondere aus Chile und Argentinien, das Exil. Gleichzeitig verantwortet er die Verfolgung, Folter und Ermordung von Oppositionellen im eigenen Land. Dieses politische Exil der Siebziger ist wiederum ein zentrales Moment in der Entstehung eines translokalen Erinnerungsraums, auf den sich inzwischen bereits eine zweite Generation von ErinnerungsaktivistInnen bezieht. In diesen Erinnerungslandschaften stellt Anne Huffschmid die »Mütter«, mexikanische »Doñas« und argentinische »Madres de Plaza de Mayo«, als neue städtische politische Subjekte vor, die in der Produktion gesellschaftlicher urbaner Erinnerungsräume beider Städte eine Schlüsselrolle spielen. Eine weitere Gemeinsamkeit – die auch über den lateinamerikanischen Kontext hinaus gilt – ist die Konfliktivität sozialer Erinnerungsprozesse. Als Konflikt der urbanen Gegenwart gefasst, verweist sie auf unterschiedlichste und oft widersprüchliche Anforderungen an einen Gedenkort, der sich mitunter zu einer stadtpolitischen, aber auch gesellschaftlichen Zerreißprobe zuspitzt. Dabei geht es um weit mehr als duale Erklärungsmuster zwischen Vergessen- oder Erinnern-Wollen. Genau an diesen Deutungskämpfen macht Huffschmid die gesellschaftliche Erinnerungsarbeit und die Produktion städtischer Räume fest.
In der vergleichenden Perspektive, die zwischen Buenos Aires und Mexiko-Stadt hin und her pendelt, tastet sich die Autorin behutsam an die Erinnerungspraxen ihrer InterviewpartnerInnen heran. Obwohl der »Fall Argentinien« eine starke Wirkmächtigkeit besitzt, welche weit über den eigenen Kontext in die Erinnerungspolitiken anderer Länder Iberoamerikas hineinwirkt, arbeitet die Autorin dabei bewusst gegen eine neue Denkschablone, die alle anderen Erinnerungen als Ableitung oder Analogie darstellen würde. Vielmehr geht sie vom Ausnahmezustand, einem »Riss im eigenen Erleben«, aus und versucht, den Bogen von einer persönlichen Zeugenschaft (testimonio) hin zu einem gesellschaftlichen Erinnerungsprozess nachzuzeichnen. Die Autorin begegnet dieser Sozialisierung der Gewalterfahrung im städtischen Raum mit einer dichten analytischen Erzählung, die sich an den Feldzugängen von Raum, Körper und Bild orientiert. Dabei bedient sich Huffschmid nicht nur an verschiedenen Textformen wie szenischen Miniaturen, die sie in den Lauftext einschiebt, sondern auch an mehreren Bildformaten aus eigenem und historischem Fotomaterial. Mit einer fragenden Beobachtung oder einer »semiotisch interessierten Ethnografie« nähert sie sich zunehmend den Spannungsfeldern der Erinnerungsorte, um schließlich in einem close reading spezifische Punkte des Feldes zu vertiefen. Auch die im Buch gezeigten Bildstrecken entsprechen dieser fortschreitenden Annäherung: Von den oft unscheinbaren Fassaden der Gebäude hinein in die Gedenkorte ehemaliger Folterkeller, auf die öffentlichen Plätze und auf Kundgebungen und schließlich zu Portraits der InterviewpartnerInnen und Verschwundenen führen sie den Blick der Leserin immer näher heran. Schade nur, dass die Bildstrecken durch die proklamierte »vollkommene Textunabhängigkeit« der Fotos und somit ihre explizite Entkoppelung vom Text auf ihr potenzielles Wissen als eigentlich komplementierende Erzählstränge verzichten. Das Buch wechselt mit den diversen Darstellungsformen und Beschreibungen fortlaufend die Perspektiven. Sprechen die Texte einmal mit der distanzierten Stimme der unsichtbaren Autorin, erzählen sie anschließend ganz direkt aus einer »Ich«-Position. Diese Vielfalt der Bild- und Textformate verwirrt die Leserin teilweise, verdeutlicht aber auch das Fragmentarische des Erinnerns. Dabei weist das ästhetisch ansprechende Fotomaterial gewisse Ähnlichkeiten mit dem Geschriebenen auf. Wortgewandt, teilweise auch poetisch, doch in den Konzeptualisierungen bisweilen unscharf, liest sich das Buch zwar sehr gut, doch sind die Bezüge so vielgestaltig, dass die Verwendung von Begriffen (oder die Setzung der Bilder) teilweise widersprüchlich erscheint.
Mit Risse im Raum schlägt Anne Huffschmid neue Wege sowohl im Feld der Stadtforschung als auch in der Erinnerungsforschung ein. Sie zeigt damit nicht nur eine Disziplinen übergreifende empirische Untersuchung städtischer Erinnerungsorte, sondern schafft darüber hinaus eine aussagekräftige Studie zweier Erinnerungskulturen in vergleichender Perspektive. Auch wenn das Buch nicht alles einhält, was es zu Beginn mit Begeisterung verspricht, ist es ein äußerst anregender Beitrag, um Stadtforschung und Erinnerungsforschung über die oft engen thematischen Grenzen hinaus weiter zu denken.
Monika Streule