Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Nach Space // Troubles liegt jetzt ein zweiter Band der von Jochen Becker und Stephan Lanz herausgegebenen Reihe metroZones vor. Er ist gleichzeitig Katalog einer Ausstellung, die in der NGBK in Berlin und in der Kunsthalle Exnergasse im WUK in Wien gezeigt wurde.
Der Titel learning from *verweist in der Tradition von Learning from Las Vegas (Venturi, Scott Brown) auf ein Untersuchungsgebiet, das im (akademischen) Diskurs vernachlässigt wurde. Ein Blick auf »das Andere« wird in Aussicht gestellt, der die eigenen Denkmuster aufzubrechen vermag. Im vorliegenden Band werden die »Metropolen des Südens« und im Besonderen deren informelle ökonomische, soziale und räumliche Organisationsformen, wie sie in den Barrios, Favelas, Bidonvilles, Shantytowns – also den Armenvierteln zu finden sind, der klassischen europäischen Metropole gegenübergestellt, die gleichzeitig als Phantasma des gegenwärtigen Stadtdiskurses entlarvt werden soll. Das europäische Stadtmodell des 19. Jahrhunderts hat gegenwärtig tatsächlich Konjunktur. AG Learning from * über die blinden Flecken hiesiger urbaner Nostalgie: »Komplett ausgeblendet hingegen bleiben die spezifischen Segregations- und Ausgrenzungsmuster, welche die Europäische Stadt in ihren verschiedenen historischen Ausformungen charakterisieren.«
In den einzelnen Beiträgen werden urbane Phänomene unter anderem in Istanbul, Bombay, Johannesburg, Lagos, Brasilien, Abidjan, aber auch Brüssel, Warschau, Wien, London oder Belfast diskutiert.
Am interessantesten wird es, wenn die AutorInnen den eigenen Blick auf »das Andere« problematisieren und die Komplexität der Transfers zwischen geografischen Räumen beschreiben. Im Klappentext heißt es: »Das besondere Augenmerk liegt auf Organisationsformen innerhalb scheinbar chaotischer Strukturen und auf den irregulären Momenten innerhalb scheinbarer Ordnungen.«
Durch den Kolonialismus wurde das europäische Stadtmodell in Gesellschaften mit anderen Traditionen implantiert. Diese prekären Einschreibungen prägen Städte wie Johannesburg bis heute. Es wird darauf hingewiesen, dass die formellen Strukturen – oft koloniales Erbe – und die informellen Strukturen der Armenviertel in einem engen Beziehungsgeflecht stehen und nicht als Gegenpole definiert werden können. Die informelle Stadt wird auch heute von der global city mitproduziert. Daraus erklärt sich die Ambivalenz, die in den Beiträgen zum Ausdruck kommt:
Einerseits wird die Hoffnung formuliert, dass aus den informellen Strukturen, in deren Rahmen auch neue kollektive und solidarische Organisationsformen entstanden sind, zu lernen sei. Andererseits wird vor Verklärung gewarnt, da die informelle Stadt auch von einem »Neoliberalismus von unten« geprägt ist, der durch existenzielle Not hervorgerufen wurde. Die BewohnerInnen der Favelas und Shantytowns empfinden ihr Leben selten als befreiend: »Resümierend ist schließlich festzustellen, dass die Kreativität und die Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die den Bewohnern gerne nachgesagt wird, stark eingeschränkt bleiben.« (Alexander Jachnov). Die Gefahr liegt in einer Ästhetisierung der Armut.
Berichtet wird von einem Kampf um Formalisierung, den die BewohnerInnen der Armenviertel oft führen: Eine staatliche Anerkennung und Legalisierung bedeutet oft einen Ausbau der minimalen Infrastruktur (Straßen, Wasser, Müllabfuhr), die dringend benötigt wird. Auch wird auf die komplexen und problematischen Machtstrukturen hingewiesen, die weiterhin von der formellen Stadt, lokalen, oft mafiös agierenden Personen oder einer Vielzahl von NGOs mit oft divergierenden Zielen gebildet werden.
Michael Zinganel beschreibt am Beispiel Wiens wie in der europäischen Stadt durch die Instrumentalisierung urbaner Ängste des Bürgertums die städtische Geografie geprägt wurde, und Randgruppen wie Arme, Obdachlose, ImmigrantInnen, AsylwerberInnen aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurden. Jochen Becker wiederum beschreibt Brüssel als kosmopolitische Stadt, die von einer Reihe selbst organisierter, lokaler Gruppen geprägt wird.
Der Band lebt von der Vielfalt der Beiträge, die einen kaleidoskopischen Blick erlauben. So wird die Stadtgeschichte und Gegenwart von Johannesburg (the trinity session, Lindsay Bremner) neben die filmische Inszenierung des Urbanen im ghanaischen und nigerianischen Video gestellt (Kerstin Pinther), oder der Jarmark Europa, ein informeller Markt in einem ehemaligen Sportstadion in Warschau (Minze Tummescheit) neben den Arizona-Market im Nordosten Bosnien-Herzegowinas (Margareth Otti, siehe auch den Beitrag der Autorin in dérive Nr.8). Der Markt wurde 1997 von OHR und SFOR zugelassen, um den Handel zwischen den Teilrepubliken zu fördern. Heute droht die Institutionalisierung in Form einer generischen Mall- Struktur.
Der vorliegende Band verhandelt nicht nur »andere« urbane Organisationsformen, sondern auch den eigenen Blick darauf. Wenn der Export europäischer Modelle problematisch ist, ist es der Import verklärter »exotischer« Modelle gleichermaßen.

Weitere AutorInnen sind: Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf, Micz Flor, Merle Kröger, Philip Scheffner, Martin Kaltwasser, Folke Köbberling, Orhan Esen, Gita Gadha, Shilpa Gupta, Andree Korpys, Markus Löffler, John Duncan, Martin Krenn, Christine Meisner.

Jochen Becker, Claudia Burbaum, Martin Kaltwasser, Folke Köbberling, Stephan Lanz, Katja Reichard (Hg.)
Learning from * Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation
Berlin: b-books, 2003.
238 S., EUR 12


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