Mister X
Besprechung von »Mister X« von Dean Motter + Co.Ein Kanaldeckel hebt sich, ein Glatzköpfiger mit überdimensionalen Sonnenbrillen und Trenchcoat entsteigt der geheimnisvollen Welt unter einer futuristisch anmutenden Metropole. Die sich vor ihm ausbreitende Stadt ist Somnopolis, ein urbanes Geflecht aus riesigen Wolkenkratzern, lang gezogenen Boulevards und finsteren Ecken. Von der Utopie, die hier stehen sollte, der vielversprechenden »Radiant City«, ist nur eine Schwundstufe geblieben, ein großstädtischer Alptraum, der seine Bewohner nach und nach in den Wahnsinn treibt. Und »Mr. X«, der Anti-Held von Dean Motters stilprägendem New-Wave-Comic aus den 1980ern, ist, wie sich von Episode zu Episode immer deutlicher herausstellt, nicht unschuldig daran. In der chiffrenhaften, glücklosen Figur schlummern vergangene, überwundene Biographien – etwa ein Chemiker, der einige der vielen in Somnopolis so beliebten Drogen entwickelt hat, oder eben auch einer der Architekten des ursprünglichen Entwurfs dieser als Ideal angelegten Stadt. Aus der von ihm entwickelten »Psychotektur«, der direkten Beeinflussung der Bewohner durch räumliche und bauliche Gestaltung, sind eine Vielzahl von Fehlern und negativen Vorbedingungen erwachsen. Die dadurch bedingten Verzerrungen spiegeln sich dabei weniger in der Gestaltung der Figuren, denn vielmehr in der Darstellung der Stadt an sich: Ästhetische Bausteine aus Film Noir, Expressionismus und Art Deco verbinden sich zu einem Stilmix, der Elemente der Vergangenheit und einer angenommenen Zukunft zu einer widersprüchlichen (und doch auch: ansehnlichen, wenn nicht gar ansprechenden) Zukunft verbindet. Mr. X und die anderen Akteure innerhalb dieser grafisch ausgestalteten postmodernen Kondition erscheinen zwangsweise winzig, unerheblich und machtlos: Seine Versuche der Wiedergutmachung und der Korrektur sind zumeist zum Scheitern verurteilt. In seiner Beschaffenheit – ewig gehetzt, mittels Aufputschmitteln ohne Schlaf auskommend, Konstrukteur einer ihn zumeist bedrohenden Umgebung, namenlos und nicht zuletzt deshalb Projektionsfläche seiner Mitstreiter und Gegenspieler – wirkt er wie eine späte, widersprüchliche Antwort auf Winsor McCays Little Nemo. Die vorliegende, auf den Zeitraum bis 1988 ausgerichtete Sammlung der ersten vierzehn Abenteuer um den düsteren Mr. X macht deutlich, warum Motters Schöpfung ebenfalls fixer Bestandteil der Comicgeschichte geworden ist. Die ab 1984 erschienene Serie setzte auf einen designintensiven Erzählentwurf, der seine filmischen und literarischen Vorbilder sehr deutlich auswies – und selbst wiederum deutliche Spuren in späteren Arbeiten hinterließ. Die Liste der von Motter in das Projekt eingebundenen Künstler ist lang und beeindruckend, schon in dieser ersten Sammlung finden sich Namen wie Los Bros Hernandez, Seth, Paul Rivoche oder Klaus Schönefeld. Ergänzt wird diese wunderschöne, ideale (Neu-)Einladung nach Somnopolis um Begleitworte, Materialien, die grandiose unvollständige Episode The Brain of Mr. X von Bill Sienkiewicz oder eine Kurzgeschichte vom bewährten Duo Neil Gaiman/Dave McKean. Wenn Mr. X im für diese Ausgabe von Dean Motter nachgereichtem Finale wieder in die Kanalisation hinabsteigt – nicht zuletzt, um erneut aus ihr aufzutauchen und seinen nicht enden wollenden Kampf weiterzuführen – kann man sich ihm eigentlich nur anschließen: »Es würde immer noch mehr zu tun geben. Und nie genug Zeit.«
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.