Mitmachen – Mitregieren! Die Wiener Festwochen als kommunale Aktionsplattform
Besprechung der Wiener Festwochen 2024Können durch Kunst und Theater alternative Regierungsformen mit nachhaltiger Wirkung in Gang gesetzt werden? Welchen Resonanzraum bietet dafür die Stadt Wien? Als Milo Rau anlässlich seiner Bestellung zum Intendanten der Wiener Festwochen keinen Zweifel darüber ließ, dass ein Kultur-Festival mehr bieten muss als grandiose emanzipatorische Theater-, Opern- und Tanzproduktionen einzuladen oder zu produzieren und infolge der Festwochen Corporate Identity einen politisch-revolutionären aktivistischen Touch verpasste und die Freie Republik Wien ausrief, war schnell klar, dass hier ein längst überfälliger struktureller Wandel stattfindet. Gleichbehandlungsfragen rückten ebenso ins Blickfeld wie eine Demokratisierung des Kulturbetriebes.
Der Rat der Republik, bestehend aus 80 sehr diversen, in Wien lebenden Menschen wurde gegründet, um gemeinsam mit 60 Expert:innen aus Kunst, Kultur, Politik, Wissenschaft, Aktivismus und Zivilgesellschaft in Form der Wiener Erklärung als Verfassung der Freien Republik Wien neue Richtlinien für ein ›Festival der Zukunft‹ auszuarbeiten. In Folge wurde das Volkskundemuseum Wien unmittelbar vor seiner sanierungsbedingten Schließung zum ›Haus der Republik‹ erklärt und anlässlich der Eröffnung am Wiener Rathausplatz von lautstarken, eloquenten, antipatriarchalen Stimmen wie Pussy Riot, Elfriede Jelinek, Paula Carolina, Bipolar Feminin, Sibylle Berg, Carola Racket, KDM Königin der Macht widerständiges Potenzial aktiviert. Als am 23. Juni 2024 mit dem Ende der Wiener Festwochen 2024 die Wiener Erklärung veröffentlich wurde, waren die Erwartungen hoch, wie aus den bisher ideologisch ausgetragenen Debatten sich konkrete Handlungen ableiten lassen und was gegen sich laufend reproduzierende strukturelle Ausschlüsse getan wird. Über einen Zeitraum von fünf Wochen wurden in zehn Sitzungen 1.000 Statements und Anregungen zu Fragen wie Welche Kunst braucht unsere Zeit? und Wie kann ein Festival seine gesellschaftspolitischen Ziele radikal umsetzen? ausgetauscht, mit dem Fazit, dass nun konkrete Maßnahmen ausgearbeitet werden, die 2025 in das Festival implementiert werden sollen. Ein Prozess, an dem lokale und internationale Partner:innenorganisationen beteiligt sein werden.
Manifestartig wurden auf der Website die bisher ausgearbeiteten Proklamationen aufgeschlüsselt. Hier in Kurzfassung:
1. Einführung eines wechselnden Programm-Beirats aus lokalen und internationalen Expert:innen; 2. Verbindliche Quoten für Einladungen, Koproduktionen und Neuproduktionen wie es die globale Komponistinnen-Plattform Akademie Zweite Moderne bei der diesjährigen Ausgabe vorzeigte; 3. Das Festival soll die Gesellschaft in ihrer Breite ansprechen. In Kooperation mit 23 Partner:innen wird die Reihe Volksstück fortgesetzt, die mit Tim Etchells abgründig humoreskem Stück Die Rechnung während der Festwochen 2024 bereits startete. 4. Der politische Handabdruck ist so wichtig wie der ökologische Fußabdruck. 5. Ziel ist es, die Vielfalt der Stadtgesellschaften in der Personalstruktur abzubilden; 6. Klare Abläufe und Formate, die im Fall von Kontroversen, Ausladung oder Canceln zum Einsatz gelangen; 7. Entwicklung künstlerischer Projekte mit lokalen Communities; 8. Theater als Raum der Auseinandersetzung, um gesellschaftliche Realitäten zu verhandeln, wie die heftigen Debatten zeigten, welche die Wiener Prozesse auslösten; 9. Bekenntnis zu einem respektvollen Arbeitsumfeld und gegen jede Form der Diskriminierung und Gewalt; 10. Verstärkte kritische Auseinandersetzung mit der Einkommens- und Fundraising-Struktur in Hinblick auf soziale und Klimagerechtigkeit.
Die Wiener Festwochen befinden sich also weiterhin in Aufbruchstimmung. Politisch Stellung bezogen wird auch außerhalb der Saison mit einer Petition und einem Offenen Brief an den slowakischen Ministerpräsident Robert Fico, mit dem gegen die Entscheidung der Kulturministerin der Republik Slowakei, Martin Šimkovičová, den Generaldirektor des Slowakischen Nationaltheaters Matej Drlička zu entlassen, protestiert wird. Die zunehmende Einschränkung der Freiheit der Kunst durch rechtspopulistische Regierungen verlangt nach Achtsamkeit und Handeln. Revolution und Widerstand, von den Wiener Festwochen gezielt als Schlagwörter eingesetzt, verfehlten ihre Wirkung nicht und wurden mit den Wiener Prozessen (einer sich an realen Justizprozessen orientierenden mehrtägigen Performance mit realen Akteur:innen aus Politik und Zeitgeschichte) einer Bewährungsprobe unterzogen. Akute Themen wie Klima, Antisemitismus, Femizide, Faschismus, Rechtspopulismus,
Solidarität, Nachhaltigkeit gerieten unter emotionalisierenden Headlines wie Die verwundete Gesellschaft, Anschläge auf die Demokratie oder Die Heuchelei der Gutgemeinten ins Kreuzverhör.
Milo Rau, als Theatermacher bekannt für seine Gerichtsformate (Das Kongo Tribunal, Die Moskauer Prozesse), greift hier auf bewährte Praktiken bestehend aus demokratischen Ausverhandlungen und Bühnenereignis zurück, um diese neu aufzumischen. Etwaige Berührungsängste mit Andersdenkenden weichen einem ambitioniert vorangetrieben Diskursformat, bei dem die rechtspopulistische Partei FPÖ auf die Anklagebank gerufen und das Verbot der FPÖ aufgrund deren verfassungswidrigen Aktivitäten gefordert wird. Mehr als 40 Stunden gingen die Verhandlungen im Wiener Odeon Theater mit Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Kulturarbeiter:innen, Aktivist:innen und Menschen aus der Zivilgesellschaft, die als Reality Show polarisierende Positionen zur Diskussion stellten. Als Aktivist:innen des Wiener Pro-Palästina-Protestcamps sich nicht an die Spielregeln hielten und ihr Manifest der Genozid-Anklage vortrugen, wurde ihnen durch das Abschalten der Mikrofone ihre öffentlichkeitswirksame Redefreiheit entzogen und eine Sendepause eingelegt. Die Situation drohte zu kippen. Im Finale stellte Milo Rau sich selbst der Anklage, ob er mit seinen politischen Aktivitäten Steuergelder der Kultur widerrechtlich einsetzt und wurde freigesprochen.
Wiener Festwochen
17. Mai bis 23. Juni 2024
Ursula Maria Probst