Nach der Migration – für eine andere Sichtweise in Forschung, Stadtentwicklung und Kulturbetrieb
Besprechung von »Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft« herausgegeben von Erol Yildiz und Marc Hill»Migration bewegt und bildet die Gesellschaft« lautet das Motto des Sammelbandes Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft von Erol Yildiz und Marc Hill. Ausgangspunkt der Herausgeber ist dabei die Beobachtung »Seit es Menschen gibt, gibt es auch Wanderungen.« Mobilität gab und gibt es zu allen Zeiten und in verschiedene Richtungen – keineswegs erst seit dem 20. Jahrhundert und nur in die europäischen Industriestaaten. Mobilität, nicht dauerhafte Sesshaftigkeit, bildet aus historischer Sicht die Norm von Gesellschaften, Gemeinwesen und Städten. Im öffentlichen Bewusstsein wird Migration heute jedoch oft als Abweichung von der Norm bzw. tendenziell als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Gegen diese »skeptische bis skandalisierende Sichtweise« wendet sich der Sammelband. Die Beiträge möchten deutlich machen, »dass Menschen mehrere Heimaten und Zugehörigkeiten haben«, vielfältige Netzwerke schaffen, transnationale Lebensstrategien entwickeln sowie mit negativen Zuschreibungen »kreativ und subversiv umzugehen wissen«. Dadurch entstehen »postmigrantische, mehrheimische, hybride und transkulturelle Alltagspraktiken«. Ziel der Publikation ist es, diese Perspektiven und Erfahrungen in den Mittelpunkt zu rücken und sich von eindeutigen Kategorisierungen wie MigrantInnen und Einheimische zu verabschieden. Das Buch tritt für eine ressourcenorientierte Sichtweise auf migrationsbedingte Phänomene ein und grenzt sich vom vorherrschenden, häufig defizitorientierten Integrationsdiskurs ab. Damit schließt es an neuere Diskurse der kritischen Migrationsforschung an.
Die Herausgeber bringen in ihrem Sammelband konzeptionelle Forschungsperspektiven und empirische Studien zusammen. Die Beiträge kommen aus verschiedenen Disziplinen der Migrations- und Stadtforschung, z. B. der Erziehungswissenschaft, Kulturanthropologie, Medienwissenschaft und Soziologie, aber auch von TheatermacherInnen, ArchitektInnen, KuratorInnen und anderen. Der Schwerpunkt liegt auf Entwicklungen in Österreich und Deutschland.
Der Reader ist in drei Themenbereiche gegliedert. Im ersten Teil Migration bewegt die Forschung werden »postmigrantische« Forschungsperspektiven für die Geistes- und Sozialwissenschaften vorgestellt. Erol Yildiz möchte mit dem Begriff des »Postmigrantischen« Dualismen wie Inländer/Ausländer dekonstruieren und auf alltägliche Mehrfachzugehörigkeiten, Übergänge und ironische Umdeutungen hinweisen. Ferner plädiert er dafür, die Migrationsforschung aus ihrer Nische herauszuholen und als kritische Gesellschaftsanalyse zu etablieren. Einem ähnlichen Plädoyer widmen sich die Beiträge von Regina Römhild und Sabine Hess. Der Beitrag von Elka Tschernokoshewa ist wiederum mit Blick auf die Hybridität von Minderheiten in dieser Perspektive verortet. Mark Terkessidis fordert am Beispiel des Kulturbetriebs sämtliche gesellschaftlichen Institutionen zu einem Umdenken auf, das in Form eines Programms »Interkultur« realisiert werden sollte.
Im zweiten Schwerpunkt Migration bewegt die Stadt werden Veränderungen in Stadtentwicklung und Urbanität durch Zuwanderung und Diversität in überwiegend qualitativen Studien untersucht. Der Beitrag von Wolf-Dietrich Bukow sucht von einem Entwicklungspotenzial für Städte ausgehend neue, gerechtere Strategien der Inklusion in Stadtgesellschaften. Marc Hill setzt sich mit postmigrantischen Alltagspraktiken von Jugendlichen im Bahnhofsviertel von Klagenfurt auseinander. In den Beiträgen von Elke Krasny, Angela Pilch Ortega, Amila Širbegović und Miriam Yildiz liegt der Fokus ebenfalls auf hybriden, transnationalen und postmigrantischen Phänomenen in unterschiedlichen migrationsgeprägten Stadtteilen, etwa von Wien, Graz, Köln, Sarajevo und St. Louis.
Der dritte Themenbereich Migration bewegt den Kulturbetrieb stellt Reaktionen von Kultureinrichtungen auf Migration vor und behandelt neue Impulse am Beispiel künstlerischer Produktionen aus Österreich, die sich mit Migration kreativ auseinandersetzen. Indem auch Involvierte aus dem Kulturbetrieb zu Wort kommen, werden unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt. Der Beitrag von Natalie Bayer beschäftigt sich z. B. kritisch mit hegemonialen Repräsentationspraktiken im Museum. Ferner gibt es Beiträge zu Lebensgeschichten und Prekarität im Film (Brigitte Hipfl), migrantischen Medien am Beispiel eines Wiener Jugendmagazins (Viktorija Ratkovic´), postmigrantischem Hiphop (Rosa Reitsamer und Rainer Prokop) sowie einem Performanceformat zum Thema Aussiedelung (Katrin Ackerl Konstantin und Rosalia Kopeinig).
Mit ihren Forschungsperspektiven, empirischen Studien und künstlerischen Projekten leistet die Publikation einen wichtigen Beitrag zu einem in Teilen bereits begonnenen Perspektivenwechsel
innerhalb der aktuellen Migrationsforschung. Dabei gelingt es den AutorInnen, Aspekte, Lebensentwürfe und Geschichten näher zu beleuchten, die »in nationalen Erzählungen marginalisiert, ignoriert oder verdrängt wurden.« In diesem Sinne ist es ein Anliegen der Herausgeber, Migrationsgeschichte neu zu erzählen. Beispielsweise werden die so genannten GastarbeiterInnen als »Pioniere einer Transnationalisierung« gedeutet, die aktuell relevante Kompetenzen und »Mobilitätswissen« für gegenwärtige transnationale Lebensentwürfe besitzen.
Yildiz’ und Hills »postmigrantische Perspektiven« werfen verschiedene Themen und Fragen auf, worauf die unterschiedlichen Beiträge vielfältige Antworten geben. Dabei sensibilisieren die Beiträge unter anderem für das Kreative, das »nach der Migration« eben auch und oft unbemerkt passiert, und inspirieren zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gängigen Konzepten. In diesem Zusammenhang weist der Band zu Recht darauf hin, dass Migration in Deutschland und Österreich »seit Generationen ein gesellschaftliches Faktum ist, das zunächst anerkannt werden muss.« Der Titel Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft bringt diese Aspekte treffend zum Ausdruck.
Julia Splitt